Aus der linken Ecke wird gemeckert, kritisiert, der digitale Kapitalismus angegriffen. Profitieren kann Die Linke davon jedoch nicht. Auch sie sieht nur die Regeln der sozialen Marktwirtschaft. Die jedoch werden durch die digitale Transformation verändert.
Wir haben nur eine Erde und verbrauchen zu viele Ressourcen – also hört auf zu wachsen. Jeder sollte nur so viele Wohnungen besitzen, wie er bewohnen kann. Wer mehr hat, wird enteignet – also für jeden nur eine Wohnung. Führt die Vermögenssteuer ein, die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter, stopft die internationalen Steuerschlupflöcher – also verteilt gefälligst um und verteilt gerecht.
Diese und noch mehr Argumente aus der kapitalismuskritischen Ecke haben wir in den vergangenen Wochen (hallo, Herr Kühnert) und Jahren (hallo, Linke) immer wieder gehört. Dabei ging es bei diesen Debatten immer nur um eines: um materielle Werte. Häuser, Geld, Steuern, Ressourcen, ob wir Fleisch essen oder nicht und ob wir Klamotten tragen wollen, die Kinder aus Bangladesch nähen, denen jeden Moment die Decke des Fabrikgebäudes auf den Kopf fallen kann.
Was aber ist mit den immateriellen Werten? Sie kommen in der öffentlichen politischen Kapitalismuskritik kaum vor. Freiheit zum Beispiel. Ist sie überhaupt noch wichtig für die Generationen Y, Z und folgende? Langweilig, könnte man behaupten, über Sozialwohnungsbau zu diskutieren ist doch viel dringender. Ja und nein. Ja, weil das bundesdeutsche Prinzip der sozialen Marktwirtschaft genau diese kritische Diskussion jetzt als überfällig erfordert. Und nein, weil seit Anfang der 2000er grundlegendere Werte dieser Wirtschaftsform durch marktliberale Strömungen verwässert werden – und die Digitalisierung diese Probleme noch verschärfen könnten.
Digitalisierung verschärft Probleme der Marktwirtschaft
In der sozialen Marktwirtschaft war Freiheit noch zentraler Bestandteil des Systems, es hieß „Freiheit vom Staat" und gleichzeitig „Freiheit mithilfe des Staates" – freies Unternehmertum ohne Staatseingriffe, die nur dann erfolgen, wenn sich der Markt zuungunsten der Gesellschaft entwickelt. Zwei gleichzeitige Ziele, die eingefordert werden und einen lösbaren Konflikt bilden, wenn die Marktwirtschaft gesteuert wird. Freiheit bedeutet also hier vor allem Freiheit vor Fremdbestimmung.
Diese Freiheit aber wird heute umgedeutet – von Befürwortern des digitalen Kapitalismus. Die „neue Freiheit" im Sinne der „New-Work-Economy" von heute sieht vor, dass der Angestellte arbeiten kann, wo er möchte, ob von zu Hause aus, von unterwegs oder doch klassisch im Büro. Die Generationen nach den Babyboomern fordern diese Freiheit, sie nehmen sie sich – und bekommen sie freiwillig; sicherlich oft innerhalb von Großkonzernen, aber auch größere Mittelständler entdecken, dass sich das Lebensgefühl der Mitarbeiter und das eigene Unternehmens-Image positiv verändern, wenn man ihnen die große Freiheit selbstbestimmten Arbeitens überlässt. Zugegeben, es hat Vorteile, sofern der Arbeitgeber die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Eine angenehme Arbeitsumgebung zum Beispiel. Die Möglichkeit, von wo auch immer zu arbeiten. Eine offene Kommunikations- und Fehlerkultur, Flexibilität, ein rascher, kreativer Innovationszyklus als Wettbewerbsvorteil. Kurz, Agilität, das Schlagwort, das im Moment durch die Management-Etagen vieler Unternehmen kreist.
Dies aber ist nur eine Seite der Medaille. Die andere: Sicherheit. Wo sich Angestellte in maximaler Flexibilität selbst entgrenzen, erwarten sie trotzdem gleichzeitig einen festen Anker im Unternehmen, Verlässlichkeit des Verhaltens der Chefetage, ein sicheres Einkommen zur besseren Lebensplanung. Ein Hybrid muss her, wenn beides, Flexibilität und Stabilität, erforderlich sind: „Stagilität", das Kunstwort aus Stabilität und Agilität, macht derzeit ebenfalls die Runde.
Die Digitalisierung macht es möglich. W-Lan, 5G, kollaborative Apps oder Roboter: Dort, wo sich das Unternehmen digital transformiert, wird es zum Ermöglicher von individueller Freiheit, was vielerorts mit hoher Kreativität als Treiber von Innovationen gleichgesetzt wird. Gleichzeitig ist der Arbeitnehmer gefordert, selbst seine Freiheit der Arbeitsorte und -zeiten zu begrenzen, weil sich das Unternehmen als sozialer Sicherungsträger zurückzieht, kurz: Stechuhr ade, aller EU-Urteile zum Trotz. Oder er entgrenzt sich eben, zur Freude des Unternehmens, selbst. Mails nach 22 Uhr beantworten? Kein Problem. Die Kinder sind im Bett und der Ehepartner geht sowieso noch ihre eigene Präsentation für morgen durch. Die Freiheit der Selbstbestimmung wird ohne soziales Sicherungssystem prekär.
Die Freiheit wird zu einem prekären Gut
Dort, wo auf Selbstständigkeit oder prekäre Arbeit gesetzt wird, ist sie es längst. Die Sicherheit verschwindet schon heute in Berufen, die noch nicht zu den hochgradig durch die Digitalisierung gefährdeten gehören. Laut Statistischem Bundesamt sind 7,7 Millionen Deutsche atypisch beschäftigt, also Zeitarbeiter, geringfügig und befristet beschäftigt sowie in Teilzeit, die meisten im Handel und im Gesundheits- und Sozialwesen. Service, Beratung oder Pflege sind hochgradig analoge Tätigkeiten – deren Zukunft aber ist digital, angesichts der zahlreichen Versuche zum Beispiel bei Edeka, Rewe digital und der Diskussion um die „Pflege 4.0". Prekäre Arbeit bedeutet schon heute prekäre Freiheit.
Für die digitale Wirtschaft spielt das Materielle, das Analoge angesichts von Software, Lizenzen, Plattformen, Flats und Streams schon jetzt überhaupt keine Rolle mehr. Wertschöpfung entsteht hier aus Daten, sie sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts, sie bestimmen den Lauf der Geschäfte wie auch unsere Privatsphäre, aus der diese Daten in der Regel entstehen. Und so wird Freiheit zu einem zentralen Gut des Digitalkapitalismus, der, glaubt man Erforschern dieses Phänomens wie dem Soziologen Prof. Dr. Philipp Staab, die Probleme des Kapitalismus noch verschärft. Freiheit wird zu einem prekären, immateriellen, aber zentralen Gut in einer von immateriellen Gütern geprägten Ökonomie. Und damit zu einem besonders diskussionswürdigen Thema. Digital ermöglichte, analoge Freiheit bedeutet zwar einerseits neue zeitliche und räumliche Möglichkeiten, entfernt dabei aber den klassischen Sicherheitsmechanismus der alten Wirtschaft. Feierabend war gestern. Darauf Antworten zu finden ist das Privileg der linken Debatten. Sie werden geführt. Das Diskussionspapier der Linken zur Digitalisierung zeugt davon. Die Agenda linker Thinktanks, darunter auch die der Rosa-Luxemburg-Stiftung, zeugt davon. Allerdings fehlt bislang die Fantasie, auf diese und andere drängende Fragen im Wandel von der herkömmlichen zur digitalen Arbeitswelt schlüssige, vernünftige Antworten im Sinne sozialer Marktwirtschaft in politischen Debatten zu finden. Und, mal ehrlich, liebe SPD, ein „Recht auf Homeoffice" ist nicht die Antwort. Aber ein erster Hinweis, dass die Konsequenzen der digitalen Transformation so langsam begreifbar werden. Jetzt muss die linke Politik nur noch den letzten Sprung schaffen – den von der Theorie auf die politische Tagesordnung. Nur so kann sie zeigen, dass sie verstanden hat, worauf es künftig ankommt: den digitalen Kapitalismus nicht nur kritisieren, sondern ihn gestalten.