Im „Nauta" bringt Küchenchef Diego Velasquez Jimenez verfeinerte Nikkei-Küche auf die Teller. Er zeigt: Das südamerikanische Land hat kulinarisch weitaus mehr und Raffinierteres als Mais, Fisch, Steak und Pisco Sour zu bieten.
Es ist bunt auf dem Teller. Kumquats, leuchtend rote Ananaswürfel, maiengrüner Wasabi-Kaviar, Gurkenscheibchen in hellem Amaranth und dunklem Quinoa sind das Beiwerk für leicht angebratenen Thunfisch. Das Gericht ist beinah so farbenfroh wie die geflochtenen Bänder im Gastraum. Ob die Ceviche auf dem Teller oder die Tropen-Tapeten und Tischdecken – wir fühlen uns in den Dschungel versetzt. Zweifellos, es ist ein urbaner Dschungel: Zu den dunkelgrundigen Wänden gesellen sich klare Linien, bequeme blaue Stühle, und das Essen kommt aus einer Küche. Wenn es zu warm wird, machen wir einfach eines der großen Fenster auf und lassen das Lüftchen und den Sound der Kastanienallee hineinwehen. Fehlt nur noch ein Papagei, der umherfliegt und von unseren Tellern picken oder vom Pisco Sour nippen will. Die Fantasie geht mit uns durch: Willkommen im „Nauta"!
Ganz so wild wie in unserer Imagination geht es beim Dinner in dem peruanischen Restaurant in den Räumen der ehemaligen Bar „103", das sich der „Nikkei Cuisine" verschrieben hat, natürlich nicht zu. Bunt, abwechslungsreich und vielfältig dagegen schon. So wie die Bevölkerung und die Küche in dem südamerikanischen Staat zwischen Pazifikküste, Anden und Regenwäldern sind. Der Mix aus japanischer Küche mit Produkten des Regenwaldes, der Flussoasen und des Meeres charakterisiert den Stil des „Nauta". „Wir haben viel Fusion in Peru. Alles ist miteinander vermischt", erklärt Restaurantleiter Hernán Caballero. Vor mehr als einhundert Jahren kamen die ersten Japaner als Gastarbeiter ins Land und mit ihnen ihre Essgewohnheiten. Ein größerer Kontrast wie der zwischen der auf den Eigengeschmack der Produkte fokussierten japanischen Küche und der stark mit Chili, Pfeffer, Knoblauch und Koriander arbeitenden peruanischen war wohl kaum denkbar. Doch eines eint die beiden grundunterschiedlichen Küchen: der Verzehr von rohem Fisch. In dem einen Fall als beinah naturbelassene Zutat zu Sashimi, Sushi und Co., im anderen Fall durch die mit Limettensaft „kalt gegarte" Ceviche.
„Jeder Bissen schmeckt anders"
Aus dieser kulinarischen (zunächst) Konfrontation und (später) Kombination entstand die japanisch-peruanische Nikkei-Küche. „Inzwischen gibt es zum Beispiel Sushi mit Ceviche oder flambierte, pikante Maki", sagt Caballero. Auch die Angewohnheit, Ceviche zusammen mit Reis zu essen, sei den japanischstämmigen Peruanern zuzuschreiben. Unsere „Nikkei Ceviche" mit dem im Tataki-Stil sehr kurz gebratenen Thunfisch ist so ein Hybrid. Die Fischstücke werden mit einer nicht minder fusionierten „Tigermilch" übergossen. Sie basiert auf Limettensaft, Fischsaft und Chili und ist mit Teriyaki-Sauce gemischt. Eine Paste aus Süßkartoffeln mit Sepia, eingelegter Rettich, die in „Chicha Morada" eingelegten Ananaswürfel, Nori- und Wakame-Algen lassen ein nuancenreiches, zwischen den einzelnen Geschmacksfacetten hin- und herwanderndes Gericht entstehen. Kurzum: Es kann viel miteinander auf der Gabel kombiniert werden und jeder Bissen schmeckt etwas anders. Die „Ceviche Azul" mit Wolfsbarsch, Vongole-Muscheln mit Edamame, Süßkartoffel-Mango-Tupfen, kleinen Zwiebeln und Algen erscheint uns dagegen beinah „normal". Sie ist die peruanischere, dem Ursprung nähere Variante. Die „blaue" Ceviche aus dem Meer wird mit einer milderen „Leche de Tigre" übergossen. Der „Tiger" kommt in Gestalt von Fischferment, rohem Fisch, Limettensaft, Dashi und Koriander ins Glas und dann über Meeresgetier und Grün auf der Glasplatte.
Wir haben viel Freude an den Wimmelbildern zum Aufessen auf unseren Tellern. Stilecht nehmen wir einen Pisco Sour als Getränk dazu. Erfrischend säuerlich und tückisch unverdächtig trinkt sich der Drink aus Traubenschnaps, Limettensaft, Zuckersirup, Eiklar und einem Angostura-Auge weg. „Mehr als zwei, drei Pisco Sour trinken wir nicht", sagt Caballero lachend. Verständlich, mit ordentlich gut verstecktem Traubenschnaps dreht sich die Welt rasch ein bisschen flotter. „Wir trinken das sehr viel. Wir haben andere Rebsorten in Peru, die sich nicht so gut für Wein wie die in Argentinien oder Chile eignen."
„Gericht, das eine eigene Geschichte erzählt"
„La propia alma", die ganze Seele des Landes, bringt Küchenchef Diego Velasquez Jimenez mit dem nächsten Teller, einem „Yakitori Callao" auf den Tisch. Gegrillter Oktopus, Rinderherz, Garnelen und Kartoffeln vereinen sich zu einem Gericht, das eine ganz eigene Geschichte erzählt. Die Tradition, Rinderherz zu essen, stamme aus der Region Ica. „Das bessere Fleisch war für die Herrschaften, die Innereien waren für die Sklaven", erzählt Caballero. Heutzutage wird das magere Muskelfleisch überall gegessen. „Anticuchos", Fleischspießchen aus vermeintlich „unedlen" Teilen, seien in Peru ein so normaler Snack „wie Döner in Berlin". Schön für uns, dass das Rinderherz aus seiner Unsichtbarkeitsecke herausgeholt wurde – braungebraten und gut gewürzt mag es rasch und heiß verspeist werden. Eine lohnenswerte Entdeckung und in der Kombination mit den Meeresfrüchten Surf ’n’ Turf auf die peruanische Art. Ein schön saftiges, medium gebratenes Entrecôte mit Kartoffelgratin plus mit Tofu und Quinoa gefüllten Paprika kommt uns danach geradezu vertraut vor. Eine Überraschung ist dagegen das Fisch-Hauptgericht „À Mar". Los geht’s ans Meer – mit einem Saiblingsfilet auf Hummer-Weißwein-Sauce. Vongole und Miesmuscheln, Artischocken, Kartoffeln, Knoblauch und Petersilie gehen überdies eine feine Verbindung miteinander ein; Weintrauben sorgen für zusätzliche Erfrischung.
Diego Velasquez Jimenez streut gern hier und da etwas Blaumohn mit seinem ganz eigenen Aroma in die Gerichte ein. Eine Reminiszenz an die Berliner Schlesier mit ihren Mohngerichten? Möglich wär’s. So wenig wie im Heimatland von Küchenchef und Restaurantleiter die Zeit kulinarisch stehen bleibt, so wenig tut sie es hier. Alles, was zur Verfügung steht, wird ausprobiert und gemixt. Ceviche mit Apfel ist eine ungewöhnliche Kombi? Kein Problem, so lange sie mundet, darf sie mit auf die Karte vom „Nauta". Übrigens finden dort, bei aller Fisch- und Fleischlastigkeit, immer vegetarische Varianten ihren Platz. Die Karte mit den „Entradas", „Principales" und „Dulce" wechsele etwa drei Mal im Jahr, verrät der Küchenchef, wobei ihm der spürbare Wechsel von Sommer und Winter am wichtigsten sei. Die „Entradas", bei denen etwa eine Ceviche deutlich über eine Vorspeise hinausgeht und als leichtes Gericht für sich selbst stehen kann, kosten um die 18 Euro; die Hauptgerichte zwischen 18 und 29 Euro. Wer erst einmal ein bisschen kreuz und quer probieren will, sollte den Brunch am Wochenende in Erwägung ziehen.
Gefühlsdramen in einem Dessert
Und was wäre die lateinamerikanische Seele erst ohne Gefühlsdramen? Die finden in einem Dessert statt. Zerbrochene Kekse als Sinnbild des „Corazón Roto" stecken in einer Creme aus „Manjar Blanco", einer Dulce de Leche. Kann ein gebrochenes Herz poetischer klingen? Oder gar besser munden? Zu der süßen Creme aus eingekochter Milch gesellt sich ein Sorbet aus Himbeeren und Minze. „Es kommt ein bisschen Alkohol dazu, so wie es bei einem gebrochenen Herzen passt", sagt Diego Velasquez Jimenez. Das Saure im Sorbet stehe für den Schmerz, den der Alkohol kurieren solle. Ich finde: Der Schmerz ist von einem auf den anderen Teller übergesprungen. In Dessert Nummer zwei befinden sich neben Eishütchen drei „Helados" mit Koriander, Chili und Süßkartoffel. Das tiefgrüne, ziemlich säuerliche Koriandereis ist demnach voller Schmerz. Sollten nach dem Verzehr der melancholischen Süßspeisen noch Scherben herumliegen und nicht sämtliche Leiden längst vertrieben worden sein, wäre ein Pisco von „Cuatro G" die Lösung. Der pure Traubenschnaps kuriert mit 40 Prozent Alkohol wahrscheinlich so ziemlich alles zwischen gebrochenen Beinen und Armen und angeknacksten Seelen und Herzen.