Bei der SPD steigt die Anspannung vor dem 1. September. Dann wird nicht nur in zwei ostdeutschen Ländern gewählt, es endet auch die Bewerbungsfrist um den Doppel-Parteivorsitz. Beides zusammen stellt die Zukunft der Groko infrage.
Paul-Löbe-Haus, Berlin, kurz nach der Sondersitzung des Bundestags wegen der Umbesetzung im Verteidigungsressort. Im Foyer kann eine SPD-Abgeordnete mittleren Alters ihre Begeisterung kaum zügeln, was allerdings nur bedingt mit dem Anlass der Sitzung zu tun hat.
„Wir brauchen in der SPD keine Doppelspitze, sondern wir brauchen den Rolf in doppelter Funktion in unserer Partei", meint sie fast schon euphorisch, um gleich danach den Reporter zu beschwören: „Sag bloß nicht, dass das von mir kommt."
Im provisorischen Plenarsaal war gerade Annegret Kramp-Karrenbauer als Verteidigungsministerin vereidigt worden, inklusive 17-minütiger Regierungserklärung. Danach heizte ihr besagter Rolf inhaltlich ordentlich ein. Rolf Mützenich ist kommissarischer Fraktionschef der SPD und von allen Seiten anerkannter Außen- und Verteidigungsexperte seiner Partei. Während der Mützenich-Rede im Parlamentsprovisorium hatten nicht wenige den Eindruck, Mützenich spräche als Oppositionsführer im Bundestag, nicht als Koalitionspartner. Und genau darauf hatte „der Rolf" es auch angelegt, nämlich größtmögliche Distanz zwischen der SPD und der Union erkennen lassen.
Mützenich sprach als Oppositionsführer
Es sind oft die kleinen Zufälle, die aus einem bis dahin nach außen eher unscheinbaren Politiker plötzlich einen Leitwolf machen. Das beste Beispiel ist das des derzeitigen kommissarischen Fraktionschefs der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich. Sein Name war bis dato Fachleuten und politisch Interessierten bekannt, in der Öffentlichkeit wurde er dagegen kaum wahrgenommen. Dann kam der Rücktritt von Andrea Nahles von all ihren Ämtern. In der SPD-Bundestagsfraktion saß man anschließend etwas ratlos beieinander und debattierte, wie es jetzt weitergehen soll und wie die Amtsnachfolge beim Fraktionsvorsitz geregelt werden soll. Schließlich einigten sich die SPD-Genossen im Bundestag auf das probate Mittel des „Dienstältesten", ähnlich wie beim Militär in aussichtlosen Lagen. Dienstältester als Fraktionsvize ist in der Bundestagsfraktion Rolf Mützenich. Gerade hat er seinen 60. Geburtstag gefeiert. Mützenich entstammt einer Kölner Arbeiterfamilie und ist seit 44 Jahren Mitglied in der SPD, also ein politisches Kind der Ära Willy Brandt. Mit Helmut Schmidt konnte er inhaltlich nur wenig anfangen, war in jungen Jahren Juso-Kumpel von Gerhard Schröder.
Zwar konnte Mützenich zu Schröders Amtszeit nur wenig mit der Politik des Basta-Kanzlers anfangen, was ihn nicht abhielt, seinerseits oft in Basta-Rhetorik zu verfallen, was er einmal mehr bei besagter Sitzung eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Dass er es politisch in seiner Partei bisher in 17 Jahren Bundestag „nur" zum stellvertretenen Fraktionsvorsitzenden gebracht hat, liegt weniger an seinen Fähigkeiten, sondern vielmehr an seiner politischen Ausrichtung. Mützenich gehört zur parlamentarischen Linken. Als ideologische Ausrichtung innerhalb der SPD sicherlich in einigen Punkten gut und richtig, für die Parteikarriere aber ganz schlecht. Zumindest bisher.
Spätestens seit der Europawahl weht nun in der SPD endgültig wieder der revolutionäre Wind, und der kommt eben von Links. Wichtigste Kampfparole: Raus aus der Groko. Ein eher leiser Weckruf dazu kam offensichtlich von der SPD-Spitzenkandidatin zur Europawahl Katarina Barley. Auslöser war das politische Fiasko der EU-Spitzenkandidaten zur Wahl des EU-Kommissionspräsidenten. Am Ende stand nicht einer der drei Wahlkampf-Spitzenkandidaten, sondern Ursula von der Leyen zur Wahl der Kommissionspräsidentin. Barley und ihre 15 deutschen Genossen im EU-Parlament machten dagegen Front. Sie wählten von der Leyen nicht zur EU-Kommissionspräsidentin und düpierten damit auch die Große Koalition in Berlin. Dort waren dann zwar umgehend die SPD-Minister bemüht, den Eindruck zu verstärken, wie wunderbar normal die Zusammenarbeit mit ihren Unions-Kollegen in der Regierung funktioniert. Doch die SPD-Strategen im Willy-Brandt-Haus interessierte das offenbar nur mäßig.
Wobei derzeit nicht wirklich klar ist, ob es diese Strategen in der SPD-Zentrale tatsächlich überhaupt noch gibt. Denn seit Ende Mai werden die Sozialdemokraten von dem unberechenbaren Dreigestirn „TSG & seinen beiden M’s" geführt (Torsten Schäfer-Gümbel, Malu Dreyer und Manuela Schwesig). Wobei alle drei ein ums andere Mal betonen, dass sie diesen Job wirklich nur kommissarisch und auf keinen Fall perspektivisch machen. Denkbar schlechte Voraussetzungen für irgendeine Strategie. Damit überlässt man offenbar alles weitere dem Fluss der Zeit und dem Bauchgefühl der Partei und ihren Mitgliedern. So auch in Sachen EU-Spitzenposten. In der Causa Ursula von der Leyen offenbarte Malu Dreyer die derzeitige Führungslosigkeit ganz offen: „Es gibt keine Order der SPD-Führung an unsere frei gewählten Abgeordneten." Und die entschieden sich dann im EU-Parlament für Frontalopposition und damit gegen von der Leyen und die Union. Eine Entscheidung, die wohl weniger aus europäischer als aus nationaler Sicht geprägt war. Zu Hause in Deutschland sollte das offenbar auch als Kampfansage gegen das Weiterregieren in der Großen Koalition verstanden werden. Der linke Flügel, ausgerechnet unterstützt von Ex-Parteichef Sigmar Gabriel und eine gefühlt breite Basis auf den Rängen jubelten ungestüm für so viel Aufstand gegen die Groko. Malu Dreyer versuchte die Emotionen gar nicht erst wieder einzufangen: „Über die Fortführung der Koalition entscheiden wir bei unserer Halbzeitbilanz im Herbst. Eine wichtige Frage wird auch für uns sein, ob man sich in der Koalition aufeinander verlassen kann." Zumindest bei CDU/CSU hat man derzeit eher nicht das Gefühl.
Franziska Giffey denkt über Kandidatur nach
Malu Dreyer hat es offenbar nicht verknusen können, dass sie aus den Medien und nicht direkt von der Bundeskanzlerin über den Personalvorschlag von der Leyen informiert wurde. Immerhin ist sie ja eine von drei kommissarischen SPD-Vorsitzenden. SPD-intern zeigte sich lediglich Ex-Fraktionschef Thomas Oppermann blank entsetzt über die Vorgänge. Ganz abgesehen vom politischen Flurschaden innerhalb der Großen Koalition sah er mit der Wahlverweigerung in Straßburg „eine Schwächung der Europäischen Union, die niemand wollen kann." Doch der derzeitige Bundestagsvizepräsident Oppermann ist innerhalb seiner Partei längst Geschichte. Und diese will zukünftig ganz offensichtlich Rolf Mützenich für seine Partei gestalten. Es gilt unterdessen als ausgemacht, dass Mützenich den Fraktionsvorsitz im Bundestag auch offiziell und nicht nur interimsmäßig übernehmen wird. Immerhin hat er den mächtigen Landesverband Nordrhein-Westfalen hinter sich. Doch spätestens seit seinem furiosen Auftritt im Bundestag heißt es beim linken Flügel in der SPD: Think big. Warum nicht Fraktions- und Parteivorsitz in einem? Dann müsste nur noch, wegen der Festlegung auf eine Doppelspitze, eine adäquate Partnerin für ihn gefunden werden. Bundesfamilienministerin Fanziska Giffey hat ja schon mehrfach offen über eine Kandidatur zum SPD-Vorsitz nachgedacht und das wohl auch mit Bedacht. Endet die Große Koalition im Herbst, braucht sie einen neuen Job.
Die Idee der „doppelten Doppelspitze" findet offenbar auch Rolf Mützenich gar nicht so verkehrt. Er dürfte, wie vermutlich auch andere, nach einem taktisch klugen Zeitpunkt suchen, um eine mögliche Bewerbung abzugeben. Die Frist endet am 1. September. Just an diesem Tag wird auch in Brandenburg und Sachsen ein neuer Landtag gewählt. So wie es aussieht, werden die beiden Wahlgänge für die SPD ein Fiasko werden, womit ein mögliches Ende der Groko greifbarer würde.