Was kommt nach der Wahl von Boris Johnson als Premier auf Großbritannien zu? Was auf die EU? Die europäische Presse hat das Lieblingsspiel britischer Journalisten übernommen: den Blick in die Kristallkugel. Doch realistisch sind eigentlich nur zwei Optionen.
Boris Johnson war mit seinen Ansichten stets äußerst flexibel. Boris hat genau eine Priorität: Boris. Kein Gerücht, sondern Konsens selbst unter jenen Beobachtern, die ihm wohlgesonnen sind. Johnsons Ziel, auch das zeigen seine vergangenen Schritte, war stets die Downing Street Nummer 10, der Sitz des Premiers. Nun ist es seine Absicht, dort so lange wie möglich zu bleiben. Johnsons inhaltliche Pläne sind in diesem Zusammenhang irrelevant, denn solange er Premierminister ist, ist er genau da, wo er hinwollte. Sein eigener Machterhalt ist die Konstante, aus der heraus Johnsons Politik verstanden werden muss.
Klar ist: Derzeit geht für Johnson die größte Gefahr von seiner eigenen Partei aus, sodass sich ein kurzer Blick auf diese lohnt. Vor einigen Wochen zeigte eine Studie der Mitglieder der konservativen Partei, dass es nur eine Priorität gibt: den Brexit um jeden Preis. Selbst die Wiedereinführung der Todesstrafe durch Erhängen würden doppelt so viele Mitglieder akzeptieren wie jene, für die ein Brexit ohne Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt (der „weiche" Brexit, Anm. d. Red.) denkbar wäre. Fast die Hälfte der Tories kann sich sogar den rassistischen Hetzer Nigel Farage von der Brexit Party als Parteivorsitzenden ihrer eigenen Partei vorstellen. Zum Vergleich: Das wäre in etwa so, als wenn etwa die Hälfte der CDU-Mitglieder über den AfD-Chef Jörg Meuthen als CDU-Chef nachdenken würde. Klar ist: Die Mehrheit der Tory-Mitglieder möchte einen harten Brexit (mit Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt). Dies wollen sie auch dann, wenn er das Ende des Vereinigten Königreiches und/oder ihrer eigenen Partei bedeutet. Das legt den Schluss nahe: Die Tories sind eine rechtspopulistisch dominierte Partei, entsprechend muss – und wird – Johnson handeln.
Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht. Es gibt ein paar wenige Abweichler. Die haben bereits angekündigt, Johnson zur Not zu Fall zu bringen. Bereits unter Amtsvorgängerin May hat die konservative Fraktion im Unterhaus kräftig Federn gelassen. Mehrere Abgeordnete fanden Mays Brexit-Kurs zu hart und verließen die Partei. Mit Folgen: Selbst wenn man die ultranationalistische DUP miteinrechnet, ist die konservative Mehrheit nun auf drei Abgeordnete zusammengeschmolzen. Ein mögliches Überlaufen zur Opposition von Abgeordneten wie dem Johnson-Kontrahenten Rory Stewart, eine denkbare Rebellion des ehemaligen Generalstaatsanwalts Dominic Grieve, des Außenpolitikers Sir Alan Duncan oder des proeuropäischen Urgesteins Ken Clarke könnten Johnson das Genick brechen.
Parteiinterne Spannungen müssen gelöst werden
Parteiinterne Feinde haben die meisten Politiker. Eng könnte es für Johnson aber gerade deshalb werden, weil die konservative Mehrheit so hauchdünn ist. Umgekehrt gibt es für die Rebellen in den eigenen Reihen bei der Opposition nicht genügend Pro-Brexit-Abweichler. Die könnten ja sonst Johnsons Mehrheitsproblem lösen. John Mann, Kate Hoey und Gisela Stewart gehören zu den notorischen Pro-Brexit-Trommlern bei Labour. Sie stimmten in den vergangenen Monaten schon mehrfach mit der konservativen Regierung und gegen die eigene Partei. Zahlenmäßig ist diese Gruppe bei Labour aber den proeuropäischen Rebellen bei den Konservativen unterlegen.
Das sorgt für ein Problem: Kommt Johnson den potenziellen Rebellen zu weit entgegen, könnte ihm die Unterstützung der rechtspopulistischen Mehrheit der Partei verloren gehen. Andererseits jedoch genügt schon eine Handvoll Rebellen, und Johnson verlöre sein Amt noch schneller als Frederick John Robinson, der 1828 – nach gerade einmal 130 Tagen – das Handtuch warf. Ein weiteres interessantes Detail aus der „YouGov"-Studie der Tory-Mitgliedschaft: Das einzige, was die Mitglieder der Tories noch mehr fürchten, als um den Brexit „betrogen" zu werden, ist ein sozialistischer Premierminister namens Jeremy Corbyn. Folgt Johnson also den Stimmen aus seiner Partei, so muss er ihnen den Eindruck vermitteln, mit allen nur denkbaren Mitteln das Schreckensbild eines sozialistischen Premierministers zu verhindern.
Zurück zur Ausgangslage. Johnson will also um jeden Preis Premierminister bleiben und muss dafür eine – wie auch immer geartete – Lösung für die parteiinternen Spannungen finden. Dabei gilt: Je länger er im Amt überlebt, desto größer ist seine Chance, weiter zu bleiben. Dabei verfügen wohl selbst die unverbesserlichsten Populisten bei den Tories über genügend politischen Selbsterhaltungstrieb, um nicht binnen kürzester Zeit den zweiten Premierminister zu stürzen. Das gibt Johnson ein wenig Spielraum hin zu den sehr wenigen, aber angesichts der Mehrheitsverhältnisse möglicherweise entscheidenden proeuropäischen Tory-Abgeordneten.
Doch sollte dies nicht überinterpretiert werden, wie dies insbesondere deutsche Medien gerne tun. Mutmaßungen gehen bis zu einem Überraschungscoup Johnsons: Es wird über einen weichen Brexit oder gar den Rücktritt vom Brexit spekuliert. Doch diese Annahmen scheinen bei näherer Betrachtung genauso so unrealistisch wie die Hoffnung vieler deutscher Medien auf ein zweites Brexit-Referendum in Großbritannien. Anders gesagt: Hier ist der Wunsch der Vater des Gedankens, denn dafür ist die Partei deutlich zu weit nach rechts gerückt.
Boris Johnson selbst hatte sich 2016 erst in allerletzter Minute für den Brexit entschieden. Damals verfasste er zwei Schreiben, in denen er seine Position begründete: eines für und eines gegen den Brexit. Ihm selbst mag diese Frage nicht so wichtig sein. Aber aus strategischen Gründen hatte er sich zum Sprachrohr der EU-Gegner gemacht, wie einst auch Cameron, bevor dieser Premierminister wurde. Johnson wird den Fehler seines einstigen Weggefährten sicher nicht wiederholen.
So bleiben Johnson zwei Optionen. Er könnte – Möglichkeit eins – Zeit schinden. Denn ist der EU-Austritt erst einmal vollzogen, hat eine europapolitisch motivierte Rebellion gegen ihn ihren Sinn verloren. Die Rechtslage ist eindeutig: Bis zum Tag des Austritts kann das Vereinigte Königreich einseitig die Austrittserklärung zurücknehmen, nach dem Austritt ist dies nicht mehr möglich. Purzelt das Land also am 31. Oktober ohne Vertrag aus der EU, hat Johnson bereits halb gewonnen. In der Zwischenzeit dürfte er etwas „Diplomatiesimulanz" betreiben in der Hoffnung, dass es so aussieht, als ringe er noch um eine Lösung.
Neuwahlen nach dem Brexit?
Da jedoch die Mehrheit für Johnson denkbar knapp ist, könnte er – Variante zwei – auch die Flucht nach vorn antreten. Boris Johnson könnte Neuwahlen anpeilen. Die Gefahr dabei: Die Konservativen würden nach derzeitigen Umfragen eine Wahl verlieren. Deshalb wird er versuchen, möglichst viele Wähler zurückzugewinnen, die zu Farages neuer Brexit Party abgewandert waren. Dafür benötigt er jedoch wohl eine gewisse Zeit.
Dennoch hätte eine Neuwahl wohl gleich mehrere Vorteile für Johnson. Denn dann würden wohl seine schärfsten parteiinternen Widersacher nicht erneut aufgestellt, die letzten Anker der Tories außerhalb des rechtspopulistischen Spektrums wären somit gelichtet. Johnson könnte ohne Rücksicht auf die verbliebenen Nicht-EU-Gegner regieren. Außerdem würde eine baldige Wahl den parlamentarischen Betrieb für zwei Monate auf Eis legen. Und: Demnächst ist ohnehin Sommerpause. Kündigt Johnson also in der ersten Septemberhälfte eine Wahl an, so wäre das Vereinigte Königreich wohl bereits aus der EU ausgetreten, bis die neue Regierung im Amt ist. So gesehen spricht einiges für eine Parlamentswahl im Herbst. Möglicherweise hat Johnson deshalb den rücksichtslosen Kampagnenexperten Dom Cummings in sein Team geholt. Cummings war bereits der Stratege der Tory-Brexit-Kampagne.
Der für Johnson ideale Zeitpunkt für die Ankündigung einer Neuwahl wäre also dann, wenn Wähler der Brexit Party zu den Tories zurückzukehren beginnen. Im Idealfall läge ein Termin so, dass der Austritt ohne Abkommen zu einem scheinbaren Nebenprodukt der Wahl wird. Parteiintern könnte Johnson ein solches Herauspurzeln immer noch als Erfolg verkaufen. So wild, wie die Tories auf den Brexit sind, dürfte das Johnson nicht allzu schwer fallen.