British Columbia ist Kanadas Hotspot Nummer eins für Bärenbeobachtung. Wobei unser Autor eher das Gefühl hatte, seinerseits von Grizzlys beobachtet zu werden. Beim Camp tief im gemäßigten Regenwald fanden sich zwar jede Menge Bärenspuren, aber keine Pelztiere. Dafür Weißkopfseeadler, Riesenlebensbäume, Angelglück und viel Abenteuerfeeling.
Willkommen im Feenland! Moose, Farne, Wurzelgeflechte, wohin man blickt. Und überall tropft, plätschert, sprüht es, selbst in den Regenpausen. Im sogenannten Avatar Grove macht der Begriff Regenwald seinem Namen alle Ehre. Der kanadische, „kalte" Regenwald ist freilich nicht mit dem tropischen Namensvetter zu verwechseln, herrschen hier doch lang nicht so hohe Temperaturen wie am Äquator – aber eben auch nicht so stramme Winter wie im restlichen Nordamerika. Was beide Typen eint: hohe Luftfeuchtigkeit und eine damit einhergehende stattliche Vegetationsdichte. Alles im grünen Bereich eben. Und so schießen riesige Bäume, manche verdreht wie Korkenzieher, andere von Flechten überzogen, in den Himmel über Vancouver Island. Etliche Western Redcedars, auch Riesenlebensbäume genannt, knacken locker die 60-Meter-Marke. Sitka-Fichten und Douglasien wachsen mitunter noch höher. Einige zählen zudem zu den ältesten Bäumen West-Kanadas. Meint in diesem Fall: 1.500 bis 1.800 Jahre! Ein Holzschild verweist auf „Canada’s gnarliest tree", den knorrigsten Baum des Landes. Vergleiche sind in dieser Kategorie zwar naturgemäß schwierig, aber die Verschwurbelungen und Rindenknoten sehen fantastisch aus, wie hölzerne Fangarme und Köpfe eines Riesen-Oktopus.
„Old Growth", so werden unberührte Urwälder wie hier an der Südwestküste von Vancouver Island genannt. „Auf der größten Pazifikinsel Nordamerikas könnte es überall so aussehen, doch zum größten Teil zeigt sich ein anderes Landschaftsbild, mit viel Sekundärwald und Kahlschlag", erzählt Kai Andersch mit Wehmut, als wir gerade an einem ausgesprochen eindrucksvollen Riesenlebensbaum haltmachen. Der 41-Jährige ist Vorsitzender der deutsch-kanadischen Stiftung Wilderness International. Mit Umweltaspekten kennt sich der Forstwissenschaftler bestens aus und mit Kanadas Flora besonders, setzt Kai sich doch seit fast 15 Jahren für die kanadischen Urwälder ein – mit rund 100 weiteren Naturliebenden wie die mitgereisten Tobias Hürten und der Kanadier David MacDonald, allesamt eher lebensbejahende Pragmatiker als verbissene Ökos.
Das läuft so: Mithilfe von „Wildnispaten" – Firmen, Schülern, Privatpersonen, Urlaubern, die bei Veranstaltern wie Diamir Erlebnisreisen oder SK Touristik einen Reisekompensations-Obolus abtreten – kauft Wilderness International rechtssicher Wildnisgebiete und schützt diese so für die Zukunft. Beim Avatar Grove, dem ebenfalls die Motorsäge drohte, waren es andere, die deren Stopp erreichten. Dem Widerstand der Ancient Forest Alliance schlossen sich derart viele Einheimische an, dass das zwar kleine, aber sensible Areal bei Port Renfrew unter Schutz gestellt wurde. „Offenbar erkannten die meisten, dass sie mit der Abforstung an dem Tourismusast sägen, auf dem sie sitzen", mutmaßt Kai. Fakt ist: Seit der Waldrettung kommen deutlich mehr Urlauber in den früheren Holzfällerort. Vor allem aufgrund der XXL-Bäume, aber auch zum Kanufahren, Angeln, Wandern. Der Juan de Fuca Marine Trail, Teil des legendären West Coast Trail, beginnt quasi ums Eck.
Dank Naturschutz kommen Touristen
Genau genommen am Botanical Beach. Gerade als wir am dortigen Parkplatz eintreffen, hören wir im Radio von einem marodierenden Schwarzbären in einem Kaff ein paar Kilometer weiter. Solche Durchsagen sind hier aber so normal wie andernorts Blitzermeldungen. Panisch wird deshalb niemand. Auch wir sind schnell abgelenkt. Als wir über verschlungene Wege zum weiten Strand gelangen, staunen wir über sandsteinerne Gezeitenpools, die wie die Fußspuren von Riesen aussehen. Beim zweiten Blick staunen wir über das Leben in den Felskuhlen: Zu sehen sind Seeigel, Anemonen, Seesterne. So geht Beachlife à la Kanada: Natur und Ruhe statt (Sonnen-)Baden und Animation.
Im Hintergrund ragen auch hier Baumriesen empor, unterfüttert von viel Gebüsch. Üppiger Regen von bis zu 3.000 Millimetern im Jahr lässt die Vegetation sprießen. Dank steil bis auf 2.000 Meter aufragender Berge sind es am Festland gegenüber Vancouver Island gar noch höhere Regenmengen. 2018 zeigt die sommerliche Niederschlagsstatistik jedoch eine Delle. „Die Lachse sind spät dran", berichtet uns Angelexperte Alex, den wir in der malerisch am Meeresarm gelegenen „Painter’s Lodge" kennenlernen. „Es war einfach zu warm und zu trocken. Zu wenig Wasser in den Flüssen. Und das brauchen sie, um bis in die Oberläufe zu wandern, wo sie laichen."
Mit den Tieren kennen sie sich in Campbell River, Beiname „Welthauptstadt der Lachse", aus. Das quirlige Städtchen ist die Basis für Tausende Natururlauber, die von hier zum Angeln aufbrechen. Oder zur Tierbeobachtung. „Das Interesse daran wird spürbar größer", stellt Alex fest, der seit Jahren wiederkehrt. Das gilt auch für den von Indianern betriebenen Tourismus, der in ganz British Columbia boomt. 2003 gab es fünf indianische Unternehmen, die sich unter dem Dach von Indigenous Tourism BC zusammengetan haben, 15 Jahre später sind es über 90.
Egal, ob Dickhornschaf- oder SuP-Touren, Wein-Tastings oder Kunstworkshops – inzwischen baut ein Drittel aller Reisenden indigene Angebote in ihre Pläne ein. Auch Veranstalter in Campbell River arbeiten mit den First Nations zusammen. Etwa „Campbell River Whale Watching – Go Wild!", seit Kurzem ein fester Waldschutzpartner von Wilderness International und größter Outdoor-Anbieter vor Ort.
Der Anbieter zählt mittlerweile 6.000 Whale- und 1.500 Grizzly-Bear-Watcher pro Jahr. Wenn die für den Sechs-Stunden-Trip rund 275 Euro hinblättern, geht die Hälfte an die Homalco im Bute Inlet. Deren Part: Sie chauffieren die per Boot anlandenden Gäste mit Vans zu Plattformen mit einem Eins-A-Ausblick auf Grizzlys, die sich hier derart gern tummeln, dass „Go Wild!" eine Geld-zurück-Garantie bei Nichtsichtung gewährt. Noch aussichtsreicher sind die Angebote luxuriöser Natur-Lodges. Die sind jedoch für die Bärenhauptsaison von August bis Oktober Monate, teils sogar ein Jahr im Voraus ausgebucht.
Hupen und Sprays gegen Bären
Die Bärentour, die unsere neunköpfige Männertruppe vorhat, kann man nicht buchen. Sie hat auch nichts mit Komfort zu tun. Denn wir wollen ins ungesicherte Bärenland, jenseits von Lodges und Plattformen, überhaupt jeglicher Besiedlung und Infrastruktur. Unser Ziel ist das einsame Toba Valley. Wo sich die Bären im Herbst ihren Winterspeck anfuttern. Wo die Regenwaldbäume alt und groß sind. Und wo es keinerlei Handyempfang, Strom oder Betten gibt. Stattdessen Zwei-Mann-Zelte, Eigenversorgung über dem Feuer, Wildnis-Setting.
Da will man gut ausgerüstet sein mit Steaks, Eiern sowie anderen Lebensmitteln und Outdoor-Equipment. Kai, Tobi und David kennen sich da aus, sind sie doch zum wiederholten Male hier, um Land für Wilderness International zu kaufen, respektive auf bereits erstandenem nach dem Rechten zu sehen. Und um jungen Stipendiaten aus Deutschland und Kanada den Regenwald näherzubringen. Zur Vorbereitung gehört auch ein Stopp in einem Angelladen, um Angellizenzen und Bärenverteidigungsmittel zu kaufen. In unseren wasserdichten Säcken landen Hupen, Pfeffersprays und, ja, ein Gewehr für den Extremfall. Wobei unsere Guides nicht müde werden, auf gewaltlose Maßnahmen hinzuweisen, allen voran umsichtiges Verhalten, sodass es gar nicht erst zu brenzligen Begegnungen kommen möge. Dennoch gilt „safety first". Tags darauf legt unser Wassertaxi um neun ab. Fahrer Richard entpuppt sich als gesprächiger Zeitgenosse. „Diesen Sommer hat es zwar wenig geregnet, aber so viele Buckelwale und Orcas haben wir selten gesehen", sagt er und steuert das Schiff behutsam durch die Inselwelt der Strait of Georgia. Sein heutiger Auftrag ist speziell: uns im Toba Inlet an einem bestimmten Felsen rauszulassen und in vier Tagen an eben jener Stelle wieder abzuholen. Nebenbei spielt Richard den Reiseführer: „Auf dieser Insel hier hat Michelle Pfeiffer zwei Häuser, die grad für knapp 30 Mille zum Verkauf stehen." Kurz darauf: „Jene Insel ist bei Hippies sehr beliebt." Und dann platzt es aus ihm heraus: „Was zur Hölle macht ihr im Toba Valley? Da ist doch nichts!"
Wie wahr. Nach zweieinhalb Stunden Fahrt halten wir „in the middle of nowhere" am Ende des sehr schönen, von Bergen eingerahmten Fjordes an besagtem Felsen. Ein wackliges Manöver, das durch rutschige Kelpreste und Algen auf den Steinen erschwert wird. Richard hupt zum Abschied, zurückbleiben neun Männer mit einem Haufen Gepäck. Die Sonne scheint so warm, dass man sich wundert, wie manche Berggipfel noch schneebedeckt sein können. Oder schon? Aus dem Meeresfjord taucht ein Seehund auf, David verschwindet im nahen Unterholz. „Daumen drücken, dass unser Motorboot noch da ist und funktioniert", ruft er. Für Unwissende nicht einsehbar haben die drei hier ein Metallboot versteckt. Mit vereinten Kräften lassen wir es erst über Baumstämme ab und dann zu Wasser. Der Motor springt an, hurra!
Es folgt ein aufwendiges Shuttle-Pingpong. Da höchstens vier Mann ins Boot passen, dauert es, bis alle an der ersten Sandbank ein paar Kilometer flussaufwärts ankommen. In der Auftaktfuhre wird ohnehin erst mal das Equipment verschifft. Was uns den Bärenpremierenkontakt beschert. Denn als 20 Minuten später Erik und Joschi nachkommen, entdecken sie Kratzspuren an einer Cider-Flasche und Tatzenabdrücke rund um Töpfe, Zelte, Wassertonnen. „Das waren eindeutig Schwarzbären", analysiert Kai, „auch wenn die primär auf Vancouver Island und hier am Festland eher Grizzlys vorkommen."
„Keiner verlässt allein das Camp"
Selbst wenn wir sie nicht direkt sehen: Sie sind also da. Ebenso wie Wölfe, Kojoten, Wapitihirsche, Pumas. Wer sich blicken lässt, sind Kanadareiher, Biber und Weißkopfseeadler, die majestätisch über den bis zu 15 Meter breiten Toba River segeln. Bei der Fahrt auf dem Fluss kommen ständig Entdeckergefühle auf. Erst recht, als wir einige Flusswindungen später die Zelte aufstellen, Feuerholz sammeln, Cowboykaffee und Kartoffeln mit Speck kochen und von Tobi mehr über den Regenwald erfahren. In den dringen wir tags darauf weiter vor. Wo Little und Big Toba River zusammenfließen, schlagen wir auf einer Sandbank das Hauptlager auf – im Herzen eines der letzten komplett wilden Täler British Columbias. Was auch an der Stiftung Wilderness International liegt, der hier rund 400 Hektar Land gehört, das unberührt bleibt.
Es keimt neue Bear-Watching-Hoffnung auf. Fabian sichtet Lachse im Wasser (wo Lachse, da Bären!) und Tobi Bärenkuhlen im Unterholz. Bei einem mehrstündigen Rundgang finden wir sogar Lachsleichen im Wald, eindeutig das Werk von Grizzlys. Die sind ja bekanntlich auf den Rogen besonders scharf. Wie viel das pro Fisch ausmacht, sehen wir, als Carsten nach kurzer Zeit ein prächtiges Sockeye-Weibchen herauszieht. Gut 70 Zentimeter lang, fünf Kilo schwer und voller roter Eier. Es folgen Fänge wie am Fließband, darunter ist ein prächtiger Saibling, den wir wie die anderen jedoch wieder freilassen. So einen Bärenhunger haben wir dann doch nicht!
Später am herrlich knackenden Feuer klärt uns Kai noch mal auf. „Ab jetzt gelten zusätzliche Regeln: weniger Lärm, mehr Konzentration, und keiner verlässt allein das Camp." Schließlich kam es in Kanadas Geschichte immer wieder zu Unfällen, gar Todesfällen mit Bären. Wobei die eigentlich nicht aggressiv sind. Daher lautet eine weitere Regel: immer genug Abstand, keine Provokation. Ach!
Am nächsten Tag folgen weitere Existenzhinweise. Kratzspuren am Baum, Tatzenspuren am Fluss, lautes Knacken in unmittelbarer Nähe. Kurze Anspannung in der Gruppe. Als sich die Lage beruhigt, bleibt Zeit, sich den Wald genauer anzusehen. Er entpuppt sich als noch zauberhafter als Avatar Grove. Einer der Bäume, bis in die Kronen mit Moosen und lamettaartigen Blatt- und Bartflechten bewachsen, hat von der Jugendgruppe, die hier im Sommer campierte, gar einen Namen bekommen: „Traumzauberbaum". Das passt.
Im Schlauchboot flussabwärts
Am vorletzten Tag regnet es fast durchgehend. Doch auch ohne Sonnenschein und Bärensichtung sind alle guter Stimmung. Angeln, über dem Feuer Fleisch und Fisch braten, Storys erzählen – echte Männerwellness hat was. Die Stimmung steigt weiter, als David berichtet: „Seit 2018 sind die Abschusslizenzen, durch die rund 100 Grizzly-Bären pro Jahr starben, ausgesetzt. Zu diesem Umdenken hat sicher auch der Bear-Watching-Tourismus beigetragen."
Letzter Tag. Um vier Uhr klingelt der Wecker. Es schüttet noch immer. Im Stockdunkeln bauen wir die Zelte ab und schleppen alles Gepäck wieder durch den Fluss zum Boot am anderen Ufer. Das eiskalte Wasser schwappt bis zum Bauchnabel, aber egal. Eh schon alles nass. Dann beginnt das letzte Abenteuerkapitel. Flussabwärts geht es in Zweier-Schlauchbooten Richtung Fjord. Absolutes Yukon-Feeling, bei dem der nebelverhangene Wald und die aufragenden Tafelberge im Hintergrund für mystische Stimmung sorgen.
Nach drei Stunden sind wir komplett durchgefroren und platt, weil wir wegen der mäßigen Strömung stets paddeln müssen. Plötzlich ruft Fabian: „Da im Gebüsch hab’ ich einen Bär gesehen!", ist er sich sicher. Mag ja sein. Wir freuen uns in diesem Fall eher darüber, gleich Richard zu sehen. Und tatsächlich: Hupend und mit laufender Heizung wartet er an „unserem" Felsen. Wenigstens darauf ist Verlass!