Wenn der Strom künftig zum großen Teil oder gar komplett grün werden soll, muss noch viel passieren. Es geht schließlich um die Sicherheit der Stromversorgung.
Kein Zweifel, das klingt doch schon ganz ordentlich nach erfolgreicher Energiewende: 44 Prozent des Stroms stammten im ersten Halbjahr aus erneuerbaren Energien. Ist also alles auf gutem Weg?
Das Ziel der Großen Koalition lautet: 65 Prozent Strom aus regenerativen Quellen bis 2030. Bleibt anzumerken, dass „sollen" eigentlich fehl am Platz ist an dieser Stelle, es müssten so viel sein, wenn der Plan der Bundesregierung aufgehen soll. Weil bis dahin längst die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet sein werden und auch eine Reihe von umweltschädlichen Braun- und Steinkohlekraftwerke vom Netz gehen. Aber wenn der Ökostromanteil steigt, bedeutet das auch: Umso mehr neue Netze sind notwendig. Denn sie müssen den vor allem in Norddeutschland erzeugten Windstrom in großen Mengen nach Süden transportieren. Und da hakt es: Nach Angaben der Netzbetreiber 50 Hertz, Amprion, Tennet und Transnet BW wird schon die erste Trasse Südlink von Brunsbüttel nach Heilbronn frühestens 2025 fertig. Die vier Unternehmen sind für den weiträumigen Stromtransport über Höchst- und Hochspannungsleitungen zuständig, bevor der Strom in die regionalen Netze fließt.
Tatsächlich sind von den nach dem Bundesbedarfsplan notwenigen 7.670 Kilometern Leitungen erst 1.750 genehmigt und davon gerade mal die Hälfte gebaut. Zwar hat das Bundeskabinett Ende 2018 ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz beschlossen, doch lokale Bürgerinitiativen und vor allem Landwirte machen den Planern weiter Schwierigkeiten. Dabei zeigt sich, dass die bisherigen Bauvorhaben gar nicht reichen werden, um das Ziel der 65 Prozent erneuerbare Energie zu erreichen. Zwei weitere Trassen, zusätzlich zu den drei großen Nord-Süd-Trassen würden gebraucht. Laut Netzentwicklungsplan liegen dann die Kosten für eine voll verkabelte Erdverlegung der Stromleitungen bei 52 Milliarden Euro bis 2030. Die Anbindung der geplanten Offshore-Windparks käme noch einmal etwa 18 bis 24 Milliarden Euro teuer. Für die Stromkunden bedeutet das, dass auf sie bis 2030 jährlich sechs Milliarden Euro an Stromkosten allein für den Netzausbau zukommen könnten.
Blackout! Wie groß ist die Gefahr in Europa?
Aber nicht nur bei den Stromtrassen hapert es. Auch an dem Ausbau der Windkraft. Nach Angaben der Fachagentur Windenergie sind im ersten Quartal dieses Jahres lediglich 41 Windräder mit einer Leistung von 134 Megawatt ans Netz gegangen – 90 Prozent weniger als im selben Zeitraum des Vorjahres. Zwar seien viele Windprojekte beantragt, aber sie bedürften noch der Genehmigung. Schon sieht die Bundesnetzagentur einen steigenden Bedarf an Reservekraftwerken, weil sich das Gefälle an installierten Stromerzeugungskapazitäten zwischen Nord- und Süddeutschland durch die Abschaltung bestehender schmutziger Kraftwerke vergrößere. Dadurch seien die Leitungen ständig in Gefahr, überlastet zu werden. Die Agentur rechnet mit mehr als 10.000 Megawatt Bedarf, das entspräche der Leistung von zehn Atomkraftwerken.
Doch wie bisher kann es nicht weiter gehen. Im Norden müssen Windparks manchmal abgeregelt werden, weil sie zu viel Strom erzeugen, der gar nicht abgenommen werden kann. Im Süden müssen konventionelle Reservekraftwerke hochgefahren werden, weil dort Strom fehlt. Erst im Juni dieses Jahres kam es an mehreren Tagen im deutschen Netz zu kritischen Situationen. Es wurde weniger Strom produziert als gebraucht wurde, sodass Strom aus dem europäischen Verbundnetz importiert werden musste. Nach dem Mega-Stromausfall in Südamerika, ebenfalls im Juni, wurde denn auch sofort die Frage aufgeworfen, ob Europa ein ähnlicher Blackout drohen könnte. „Deutschland hat eines der sichersten Stromnetze der Welt", beruhigte eine Sprecherin des Übertragungsnetzbetreibers Tennet, der in großen Teilen Deutschlands und in den Niederlanden die Übertragungsleitungen betreibt. Das Stromnetz sei „redundant" ausgelegt. Falle eine Verbindung aus, gebe es mindestens einen zweiten Weg, über den der Stromtransport sichergestellt werden könne.
In Zukunft sollen ganz andere technische Lösungen wichtig werden: Das Zauberwort heißt: „Power-to-X". Dabei wird Strom gespeichert, der gerade nicht gebraucht wird. Mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums untersuchen Wissenschaftler in einem groß angelegten Forschungsprojekt Möglichkeiten, Stromüberschüsse auf elektrochemischen Weg in Wasserstoff oder Methan, oder in flüssige Substanzen wie Kraftstoffe für die Mobilität oder Basis-Chemikalien für die chemische Industrie umzuwandeln. Das Ministerium weist darauf hin, dass der Power-to-X-Ansatz von herausragender Bedeutung sei, um die erneuerbaren Energien Wind und Sonne auch in den Sektoren Mobilität und Wärme einsetzen zu können. Ihr Energieverbrauch beträgt etwa 80 Prozent des gesamten Energieverbrauchs – für die Stromerzeugung werden lediglich 20 Prozent verwendet.
Systeme könnten künftig intelligent werden
Bleiben die dezentralen Lösungen vor Ort. Auch dafür gibt es einige Ideen. Das Helmholtz-Institut für Erneuerbare Energien in Erlangen-Nürnberg schlägt vor, „Energiezellen" zu definieren: Landkreise, Kleinstädte, aber auch Teile von Metropolen. Jede dieser Zellen müsste versuchen, ihren Energiebedarf weitgehend eigenständig zu decken. In manchen Regionen spielt dabei die Windkraft die dominierende Rolle, in anderen Sonne und Biomasse. Wichtig sei vor allen die Speichertechnologie – vom kleinen Speicher für eine Wohnanlage bis zum Großspeicher für einen Industriepark. Nur so könne eine Zelle, die wegen einer Windflaute ihren Bedarf kurzzeitig nicht decken kann, Energie aus anderen Zellen erhalten, die über einen gefüllten Speicher verfügen. An die Grenzen stößt das Prinzip Selbstversorgung, wenn Großstädte oder bevölkerungsreiche Ballungsräume versorgt werden müssen. Das könnten, so das Zentrum, wie bisher schon, Gaskraftwerke übernehmen, die gleich über Kraft-Wärme-Koppelung für Heizung und Warmwasser sorgen könnten.
Doch das Leben auf der Energieinsel scheint etwas utopisch: Fotovoltaik auf dem Dach, Blockheizkraftwerk im Keller, Wärmepumpe unterm Haus, das E-Auto fährt mit Energie vom eigenen Windrad und im Sommer legt man dann noch einen Energievorrat für den Winter an. Die reale Umsetzung ernüchtert: Die Zahl der neu installierten Mini-Blockheizkraftwerke, die ein Haus heizen und gleichzeitig Strom erzeugen, ist zum Beispiel von über 2.300 (2014) auf rund 700 im vergangenen Jahr gesunken. Autarkie ist zunächst mal teuer.
Ein Ausweg aus dem Dilemma, viel Strom über lange Strecken transportieren zu müssen, sehen viele in Smart Grids, also intelligenten Netzen. Eine Definition auf der Webseite des Versorgers Eon lautet so: „Ein Netz wird dann intelligent, wenn innerhalb des Netzes ein Informationsaustausch erfolgt, mit dessen Hilfe die Stromerzeugung, der Verbrauch und die Speicherung dynamisch gesteuert werden können." Das bedeutet: Alle Verbraucher werden permanent überwacht. Über intelligente Stromzähler (Smart Meter) werden Informationen über Stromverbrauch und Hauptnutzungszeiten übermittelt. Auch wer wie viel speichert, muss bekannt sein. So kann ein Angebotsüberschuss oder eine hohe Nachfrage ausgeglichen werden. Bekommt das Smart Meter die Information, dass ein Stromüberschuss existiert, aktiviert es automatisch angeschlossene Geräte. Da bei Smart-Grid-Netzen Informationen in beiden Richtungen fließen, spricht man auch vom Internet des Stroms. Das Internet der Dinge hat bereits das Haus im Griff, das Internet des Stroms könnte auch die Versorgung übernehmen. Das scheint noch Zukunftsmusik zu sein, aber es könnte schneller kommen, als allgemein angenommen.