Ronnie Biggs war 1963 beim bis dahin größten Raubüberfall aller Zeiten nur eine Randfigur gewesen. Doch dank eines spektakulären Gefängnisausbruches und seiner von ihm selbst und den Medien perfekt vermarkteten, 35 Jahre dauernden Flucht stieg er zum Kultgangster auf.
Es war sein 34. Geburtstag. Es wurde groß gefeiert. Ronnie Biggs hatte Whisky auf den abgelegenen Bauernhof Leatherslade Farm unweit des Dörfchens Oakley in der mittelsüdenglischen Grafschaft Buckinghamshire herbeigeschafft. Doch der eigentliche Grund für die ausgelassene Stimmung war keineswegs Biggs Ehrentag, sondern das Gelingen des bis dahin größten Raubüberfalls der Kriminalgeschichte mit einer Beute von mehr als 2,6 Millionen britischen Pfund, nach heutigem Wert rund 56 Millionen Euro. Dem „Great Train Robbery" sollten dank der Raffinesse seiner Umsetzung sowie der riesigen Popularität der beteiligten Gangster auch spätere in vergleichbaren Beutehöhen angesiedelte Mega-Verbrechen wie der Postraub von Zürich im September 1997 oder der Tunneleinbruch in eine Bank im brasilianischen Fortaleza im August 2005 nicht das Wasser reichen können. Ronnie Biggs, das jüngste Mitglied der 15-köpfigen Bande, spielte bei dem Coup, einem verbrecherischen Meisterstück, das mit Köpfchen und fast ohne Gewaltanwendung durchgezogen wurde, kaum mehr als eine Statistenrolle und hätte sich daher am frühen Morgen des 8. August 1963 wohl kaum träumen lassen, dass er im Verlaufe seiner 35-jährigen Flucht zum Mythos des sympathischen Ganoven und letztlich sogar zum berühmtesten Posträuber des gesamten 20. Jahrhunderts aufsteigen würde.
Ronald Arthur „Ronnie" Biggs wurde am 8. August 1929 im Londoner Stadtteil Lambeth als eines von vier Kindern eines Busfahrers geboren. Schon in früher Jugend geriet er auf die schiefe Bahn und war als Mitglied einer Straßengang an kleineren Diebstählen beteiligt. Als er im Alter von 16 Jahren erstmals vor Gericht erscheinen musste, wurde er in ein Erziehungsheim eingewiesen, wo er eine Maler-Lehre begann. 1947 trat er in die Royal Air Force ein, wurde jedoch zwei Jahre später wegen Desertionsversuchen und einem Apotheken-Einbruch unehrenhaft entlassen. Wenig später machte er erstmals Bekanntschaft mit dem Knast, weil man ihn beim Autodiebstahl erwischt hatte. Kaum wieder draußen, war er an einem Überfall auf ein Wettbüro in Lambeth beteiligt. Im Südlondoner Gefängnis Wandsworth sollte er die für sein Leben entscheidende Bekanntschaft mit Bruce Reynolds machen, der Schlüsselfigur des späteren Postzugüberfalls, der sich im Londoner Kleingangstermilieu unter dem Deckmantel eines Antiquitätenhändlers den Ruf als kultivierter Gentleman-Gangster erworben hatte – mit allem, was dazu gehörte, von maßgeschneiderten Anzügen bis hin zu teuren Autos à la Aston Martin. Nach seinem dritten Gefängnisaufenthalt hatte Biggs den Entschluss gefasst, nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen und als Zimmermann zu arbeiten, zumal er 1960 die Lehrerstochter Charmian Powell geheiratet hatte und mit ihr drei Söhne bekommen sollte.
Biggs war jüngstes Mitglied des Raubüberfalls
Da Biggs ständig knapp bei Kasse war, nahm er Anfang 1963 wieder Kontakt zu Reynolds auf. Der ließ ihn zwar abblitzen, aber angeberisch durchblicken, dass er an einem großen Ding dran sei. Eine Beteiligung von Biggs wäre niemals infrage gekommen, wenn dieser nicht zufällig von anstehenden Restaurierungsarbeiten im Hause eines pensionierten Lokführers berichtet hätte. Was Reynolds auf der Stelle ins Grübeln brachte, denn bei ihrem seit Monaten immer wieder geprobten Überfall gab es eine Schwachstelle: Jemand musste in der Lage sein, die durch Signalmanipulation zum Stoppen gebrachte Lokomotive samt des vom Rest des Zuges abgekoppelten Geldwaggons rund einen Kilometer weiter bis zu einer Brücke zu fahren, um von dort aus die Geldsäcke möglichst schnell in die auf der darunter verlaufenden Straße wartenden Transporter zu befördern.
Biggs bot an, den Kontakt zum Lokführer zu vermitteln, allerdings nur unter der Bedingung, dass er bei dem Überfall mit im Boot sein dürfe. Reynolds beschränkte Biggs’ Mitarbeit auf das Beaufsichtigen des Lokführers am anvisierten Tag des Überfalls auf die Royal Mail, den Postzug, der auf seiner nächtlichen Fahrt vom 7. auf den 8. August 1963 von Glasgow nach London, einem Tipp aus der Londoner Ganovenszene zufolge, eine Riesenmenge an abgenutzten und zum Schreddern vorgesehenen Ein- und Fünf-Pfund-Noten an Bord haben sollte. Dabei sollte der Verzicht auf jegliches Sicherheitspersonal ein Raubmanöver gleichsam zu einem Kinderspiel machen – in rund 125 Jahren britischer Postzuggeschichte hatte es keine größeren Zwischenfälle gegeben.
Am Morgen des 8. August 1963 sollte sich das ändern. Nachdem der Zug um 3.05 Uhr am Tatort bei Ledburn, knapp 50 Kilometer nördlich von London, zum Stillstand gekommen war, ging die Aktion generalstabsmäßig innerhalb von 17 Minuten über die Bühne. Die maskierten und nur mit Metallstangen bewaffneten Räuber wurden allerdings von Blitz’ Lokführer zum Improvisieren gezwungen. Der Mann erklärte sich außerstande, die neuartige Dieselmaschine zu manövrieren. Der zuvor niedergeschlagene Royal-Mail-Zugführer musste deshalb gezwungen werden, den kurzen Weg bis zur Bridego-Brücke, wo Biggs mit drei Kumpanen untätig wartete, zu fahren. Dort wurden dann 120 Geldsäcke sowie nach späteren, nicht verifizierbaren Angaben von Biggs zusätzlich auch noch 50 ungeschliffene Diamanten in die bereitstehenden Fluchtautos verladen.
Der Großteil der Beute ist bis heute verschwunden
Schon um 3.40 Uhr war die Bande wieder in der Leatherslade Farm eingetroffen, ihrem 26 Kilometer Luftlinie vom Tatort entfernten Basislager. Beim Geldzählen wurden sie beim Abhören des Polizeifunks von der Nachricht überrascht, dass die Ermittler ihren Aufenthaltsort im Radius von 30 Meilen vermuteten, weil einer der Räuber am Tatort die Verständigung der Polizei frühestens eine halbe Stunde nach ihrem Verschwinden erlaubt hatte. Nachdem sie das Geld aufgeteilt hatten, machten sie sich aus dem Staub. Jeder erhielt rund 150.000 Pfund. Reynolds’ Anweisung, die Farm zur Spurenvernichtung abzufackeln, wurde von dem damit betrauten Bandenmitglied nicht befolgt. Darum konnten die Ermittler Fingerabdrücke von neun Beteiligten sicherstellen, darunter die von Biggs auf einer Ketchupflasche und einem Monopolyspiel, was zur schnellen Verhaftung der meisten Täter führte. Nur der Großteil der Beute blieb für immer verschwunden.
Biggs saß schon nach zwei Wochen hinter Gittern. Er wurde mit zwölf seiner Kumpanen im längsten Prozess der englischen Kriminalgeschichte am 16. April 1964 drakonisch verurteilt und erhielt als neunmal Vorbestrafter 30 Jahre Zuchthaus. Mit seinem am 8. Juli 1965 geglückten Ausbruchversuch aus dem Londoner Wandsworth Prison, dem sichersten Gefängnis der Insel, dessen Mauern er mithilfe eines direkt davor geparkten Umzugswagens und einer in den Hof herabgeworfenen Strickleiter überwinden konnte, begann die Legende um Ronnie Biggs zu wachsen. Er wurde in der Öffentlichkeit als Held gefeiert, seine Flucht, die ihn von Paris über Australien bis schließlich 1970 nach Brasilien führen sollte, nach Zurücklassung seiner Familie in Down Under, wurde von den britischen Massenmedien ausführlich begleitet. Sein Beuteanteil war schnell aufgebraucht. Allein für eine Gesichtsoperation an der Seine waren 40.000 Pfund draufgegangen. Mindestens ebenso viel Geld war für falsche Pässe und jede Menge Fluchthelfer benötigt worden.
Da ihm als gesuchtem Verbrecher in Brasilien keine Arbeitserlaubnis erteilt wurde, willigte er 1974 für ein Honorar von 35.000 Pfund in ein Exklusivinterview mit der „Daily Mail" ein. Doch statt eines Reporters klopfte der von dem Boulevardblatt informierte Chefermittler Jack Slipper von Scotland Yard an seine Tür in Rio de Janeiro. Biggs wurde zwar in Untersuchungshaft genommen, doch seine Auslieferung konnte verhindert werden, weil die brasilianische Nachtclubtänzerin Raimunda de Castro mit seinem Sohn Michael schwanger war.
Biggs nahm Schallplatten mit Stars wie Phil Collins auf
In den folgenden Jahren gelang es Biggs, der 1981 auch noch eine Kidnapping-Aktion zwecks Rückführung nach England glücklich überstand, immer besser, seinen Ruhm zu vermarkten. Er machte Werbung für Alarmanlagen, verkaufte Nippes, Klamotten, Kaffeetassen oder T-Shirts mit seinem Konterfei, nahm Schallplatten mit Titanen wie den Sex Pistols, den Toten Hosen oder Phil Collins auf, verfasste 1994 seine Autobiografie „Odd Man Out" und wurde zu einer gut bezahlten Touristenattraktion. Ein Foto oder ein Barbecue mit Biggs wurden in den 90er-Jahren vom Reiseführer Lonely Planet als Highlight jedes Besuchs am Zuckerhut angepriesen. Auch Fernsehen und Kino förderten den Mythos rund um Biggs und den Postraub. In Deutschland war 1966 der TV-Dreiteiler „Die Gentlemen bitten zur Kasse" mit einer Einschaltquote von 84 Prozent der größte Straßenfeger aller Zeiten. Als sich sein Gesundheitszustand infolge mehrerer Schlaganfälle zusehends verschlechtert hatte, entschloss sich Biggs 2001 zur Rückkehr nach Großbritannien. Nach seiner Ankunft am 7. Mai 2001 wurde er umgehend in Haft genommen und schließlich am 6. August 2009 aufgrund seiner fortschreitenden Krankheit begnadigt. Bei ihm war MRSA diagnostiziert worden. Am 18. Dezember 2013 starb er in einem Pflegeheim in East Barnet im Londoner Norden.