2015 hatte der THW Kiel letztmals die Meisterschaft errungen. Das dürfte sich für den Abonnement-Titelträger und Liga-Krösus wie eine Ewigkeit anfühlen.
Mit dem Abschiedsspiel für Alfred Gislason am 26. Juli in der Kieler Sparkassen-Arena endete für den THW Kiel eine von grandiosen Erfolgen geprägte, elfjährige Ära, aus der neben sechs Meisterschaften und sieben Pokal-Triumphen vor allem die beiden Siege in der Champions League 2010 und 2012 herausragten. Die Feierstimmung bei den Zebras wurde einzig durch den Rückblick auf die letzte Saison leicht getrübt. Zwar hatte man wieder den nationalen Pokal-Wettbewerb und zum insgesamt vierten Mal den internationalen EHF-Cup für sich entschieden, doch in der Meisterschaft war man hinter der SG Flensburg-Handewitt, dem ewigen norddeutschen Rivalen, nur auf Platz zwei gelandet.
Dabei hatte man eine eigentlich herausragende Saison gespielt und dabei lediglich drei Niederlagen kassiert, was normalerweise locker für den Titel gereicht hätte. Aber der Gewinn des Triples scheiterte letztlich am Ligakonkurrenten SC Magdeburg, dem man sich gleich zweimal geschlagen geben musste, und natürlich an der Klasse der Flensburger Handball-Stars. Niemand an der Förde konnte das Abschneiden im Titelrennen 2018/2019 als einmaligen Ausrutscher deklarieren, weil die Zebras seit 2015 schon zum vierten Mal hintereinander das Nachsehen hatten und jeweils zweimal zähneknirschend Glückwünsche an die Spieler der Rhein-Neckar Löwen und der SG Flensburg-Handewitt verteilen mussten.
Für den 20-maligen nationalen Rekord-Titelträger THW Kiel eigentlich eine große Schmach, zumal der Liga-Krösus mit seinem hochkarätigen Kader und einem Rekordetat von zuletzt kolportierten mehr als zehn Millionen Euro Jahr für Jahr trotz immer stärker werdender nationaler Konkurrenz-Vereine als Meisterschafts-Favorit Nummer eins gehandelt wird.
Titel sind in Kiel eigentlich Pflicht
Nachdem die Kieler 1994 wieder mal die erste Meisterschaft nach einer Durststrecke von 31 Jahren errungen hatten, waren die Zebras gleichsam von Titel zu Titel galoppiert. Sie hatten in der Saison 2011/2012 dabei Einmaliges geschafft, indem sie das Championat verlustpunktfrei mit einem sagenhaften Punkteverhältnis von 68:0 abschlossen. Die vierjährige Durststrecke ohne nationale Meisterschaft ist für den THW Kiel beispiellos für das letzte Vierteljahrhundert. Nicht wenige machen dafür den Abgang des tschechischen Ausnahmekönners, Torgaranten und Rückraumkolosses Filip Jicha, dem Dreh- und Angelpunkt des Teams und Welthandballer des Jahres 2010, im Sommer 2015 zum FC Barcelona verantwortlich. Und genau auf diesem Mann ruhen nun sämtliche Hoffnungen der Fans rund um die Sparkassen-Arena für eine neue rosige Zukunft der Zebras.
Als der THW Kiel im Frühjahr 2018 bekanntgegeben hatte, dass Alfred Gislason seine Karriere in der Handball-Bundesliga im Sommer 2019 nach insgesamt 27 Jahren beenden würde, wurde an der Förde auch gleich der Nachfolger des Isländers im Traineramt benannt. Der dienstälteste Coach der Liga sollte von einem Rookie abgelöst werden, einem verdienstvollen ehemaligen Kieler Spieler, der noch nie eine Profimannschaft betreut hatte und damals noch nicht einmal im Besitz der nötigen A-Lizenz gewesen war.
Die Verantwortlichen der Zebras waren zuversichtlich, dass der aus Katalonien zurückgekehrte Filip Jicha das für einen Cheftrainer nötige Rüstzeug als Assistent und Co-Trainer von Gislason in Rekordtempo würde erwerben können. Am 1. Juli 2019 trat der 37-jährige Jicha sein neues Amt offiziell an, unterstützt von Co-Trainer Christian Sprenger und dem schon bewährten sportlichen Leiter Viktor Szilagyi. Womit die Kieler im Wettkampf-Bereich von einem vergleichsweise sehr jungen Trio geführt werden.
Jichas Wechsel hinterließ eine Lücke
Im mit 16 Handballern gewohnt breit aufgestellten Team gab es für die neue Saison 2019/2020 kaum Veränderungen, was für eine eingespielte Mannschaft spricht. Der zum KC Kielce gewechselte Nationalkeeper Andreas Wolff wurde durch Dario Quenstedt vom SC Magdeburg ersetzt, für den Rückraum und als ausgewiesener Abwehrspezialist wurde der Tscheche Pavel Horak von HC Meshkov Brest verpflichtet. Sebastian Firnhaber hat die Zebras in Richtung HC Erlangen verlassen. Der THW Kiel geht daher mit einer schlagkräftigen Truppe rund um den dänischen Nationaltorwart Niklas Landin und die deutschen Nationalspieler Steffen Weinhold, Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek die Mission Titelgewinne an.
Von denen gibt es für die Zebras in der neuen Saison gleich fünf mögliche. Denn zusätzlich zu Meisterschaft (Saisonstart am 25. August mit Heimspiel gegen Frisch Auf! Göppingen), DHB-Pokal (Auftakt im Viererturnier am 17. und 18. August gegen den Drittligisten GSV Eintracht Baunatal), Champions League (Kiel wurden in der megastarken Gruppe B Titelverteidiger Vardar Skopje, der letztjährige Finalist Vezprem oder das französische Top-Team Montpellier HB zugelost) und Supercup (gegen Meister SG Flensburg-Handewitt am 21. August) erhielt der THW von der International Handball Federation als EHF-Cup-Sieger auch noch eine Wild-Card für die Club-WM, die vom 27. bis 31. August unter dem Namen „Super Globe" im saudi-arabischen Damman ausgetragen wird.
Stärkste Gegner dürften dort Titelverteidiger FC Barcelona und Champions-League-Sieger RK Vadar Skopje sein. Neben dem Prestige winken hohe Preisgelder, 355.000 Euro für den Sieger, 220.000 beziehungsweise 133.000 Euro für den Zweit- und Drittplatzierten.
Das Auftaktmatch gegen den Sydney University Handball Club am 27. August dürfte für die Zebras kein Problem darstellen. Die Kieler, die diesen Wettbewerb bislang einmal anno 2011 gewonnen haben, nehmen die Aufgabe durchaus ernst. „Der IHF Super Globe ist eine Möglichkeit", so Viktor Szilagyi, „uns mit den besten Mannschaften aller Handball-Kontinente zu messen. Diese Belohnung hat sich unsere Mannschaft mit dem Gewinn des EHF-Cups selbst erarbeitet und verdient. Unser Ziel ist es, mit dem Pokal wieder nach Hause zu kommen."
In allen Wettbewerben das Maximale
Auch für die Teilnahme an der kommenden Champions League hat Kiel eine Wildcard von der Europäischen Handball Föderation erhalten. Das war alles andere als selbstverständlich, hatten doch 35 europäische Vereine einen entsprechenden Antrag gestellt. Neben Kiel wurden jedoch nur noch Montpellier und der ungarische Vizemeister MOL Pick Szeged berücksichtigt. „Wir freuen uns riesig", so Viktor Szilagyi, „dass wir wieder zurück auf der großen europäischen Bühne sind. Das war unser großes Ziel, und für dieses Ziel haben alle im Club hart gearbeitet."
Für Trainer Filip Jicha, der die Saisonvorbereitung am 15. Juli aufgenommen hat, ist klar, dass von ihm Titel erwartet werden. Wobei die Meisterschale endlich wieder schnellstmöglich an die Förde zurückkehren sollte, was angesichts der starken heimischen Konkurrenz von Flensburg-Handewitt und den beiden zuletzt kräftig aufgerüsteten Gegnern Rhein-Neckar Löwen und der MT Melsungen alles andere als ein Selbstläufer werden dürfte. Doch seine Schützlinge müssten einfach, so Jicha, „den Anspruch haben, in allen Wettbewerben um das Maximale zu spielen."
In den ersten Einheiten legte er das Schwergewicht auf Athletik und Kräftigung, um die Grundlagen für eine lange Saison zu schaffen. Denn bei optimalem Saisonverlauf warten auf die Kieler, die mit dem dänischen Sportartikelhersteller Hummel einen neuen Ausrüster verpflichtet haben, aus Supercup (eine), Bundesliga (34), DHB-Pokal (sechs und Champions League (20) stolze 61 Partien. Jicha möchte nur ungern mit seinem Vorgänger Gislason verglichen werden, sondern seinen eigenen Weg gehen und dabei auch keinesfalls die Arbeit des Isländers nur kopieren: „Wenn man kopiert, ist man immer der Zweite."
Über eine etwaige neue Spielphilosophie hat er noch nichts Konkretes verlauten lassen: „Wir wollen etwas Neues entstehen lassen. Ich habe von jedem meiner Trainer etwas mitbekommen. Für die Spieler wird es insgesamt bestimmt anders, als sie es gewohnt waren." Vermutlich werden seine Handballer, denen er vor allem auch einen starken Teamspirit einimpfen möchte, das schon im neuntägigen Trainingslager im österreichischen Graz zwischen dem 27. Juli und 4. August feststellen können.
Danach folgen eine Reihe von Testspielen mit den Highlights am 11. August gegen den FC Barcelona und am 14. August gegen das französische Starensemble von Paris Saint-Germain. Jicha: „Barcelona und Paris sind die Gegner, mit denen wir uns messen wollen." Und mit denen sieht Jicha seine Mannschaft natürlich auf Augenhöhe: „Wir sind wieder dort, wo der THW Kiel hingehört. Es muss unser Ansporn sein, uns stets mit den Besten messen zu wollen."