Medienvertreter sollten nicht jeder Sau blindlings hinterherrennen
Wenn Sie diese Zeile lesen und innerlich seufzen über den soundsovielten Wenn-Sie-diese-Zeile-lesen-Einstieg in eine Magazin-Kolumne, dann können Sie sicher sein: Sie leben. Und Sie haben – zumindest vorerst – die drohende Irgendwas-Epidemie, den Fast-Super-GAU in der Nähe eines AKWs oder den Beinahe-Terroranschlag in einer Millionenstadt überlebt.
Wenn Schreckensszenarien wie diese über das Jahr immer wieder auf- und zuploppen, mag es verständlich sein, dass die meisten unter uns an die unausweichliche Vergänglichkeit ihrer Existenz auf Erden kaum einen Gedanken verschwenden. Wie sollte man das auch schaffen, wenn in zuverlässiger Regelmäßigkeit in deutschen Medien eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben wird. Ließen sich in der Vergangenheit die Deutschen infolge von BSE, Schweinegrippe und EHEC stark verunsichern und in ihren Ernährungsgewohnheiten einschränken, so versucht man heute immer noch den Leuten das Fürchten zu lehren.
Seit Wochen geistert durch die mediale Öffentlichkeit die Masernimpfpflicht, zuletzt hatte sich unter anderem der Deutsche Ethikrat gegen die Pflicht ausgesprochen. Ersonnen hat dieses ach so wichtige, keinen Aufschub duldende Vorhaben CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn. Natürlich liegt es nahe, Minister Spahn einen Hang zur Regulierungswut zu unterstellen – aber nein: Er hat das Kindeswohl fest im Blick, denn nach seinem Willen soll kein Kind an der hoch ansteckenden Viruserkrankung mehr leiden. Aber daran, dass Impfen – für Erwachsene wie Kinder – eine Körperverletzung ist, hat er offensichtlich nicht gedacht. Wer wie Spahn überzeugt ist, dass die eigenen Ziele zum Wohle aller sind, schaut mitunter nur noch stur geradeaus. Jetzt ist das „Masernschutzgesetz" auf den Weg gebracht worden, das Bundeskabinett hat es beschlossen. Falls nun noch der Bundestag zustimmt, müssten Kinder in Kitas, Schulen, Heimen und Ferienlagern entweder einen Impfschutz vorweisen oder gegen Masern immunisiert sein. Auch für alle, die in diesen Einrichtungen berufstätig sind – vom Hausmeister über Reinigungskräfte bis zum Erziehungs- und Pflegepersonal – würde der Pieks Pflicht werden.
Man kann sich vorstellen, welcher Aufwand betrieben werden müsste, um die Masern in der ganzen Republik auszurotten. Ganz zu schweigen vom durchaus wahrscheinlichen Aufstöhnen in den Reihen der Ärzteschaft ob der Mehrarbeit und den genervten Elternteilen, denen man eine weitere Verpflichtung in ihrem ohnehin freizeitarmen Alltag aufbürden würde. Der eigentliche Hammer ist aber nicht der Pieks. Spahn schwingt gegen diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, die Sanktionskeule. Schlappe 2.500 Euro Bußgeld und – quasi die Höchststrafe für Kind und Elternteile – der Ausschluss des nicht geimpften Kindes von der Kita drohen den Impfverweigerern. In letzter Konsequenz würde das eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern in eine finanzielle Krise stürzen und ihr obendrein ein handfestes Betreuungsproblem einbrocken.
Um besser zu verstehen, wie eine Sau mit möglichst lautem Gequieke durchs Dorf getrieben wird, reicht es, sich daran zu erinnern, was der frühere „Focus"-Chefredakteur Helmut Markwort vor fast 20 Jahren in einem Interview mit der „Zeit" sagte. Es würden jetzt alle versuchen, bei den gleichen Themen dabei zu sein. Markwort sagte einen Satz zuvor, dass die öffentlich-rechtlichen Sender früher nicht über die Scheidung von Boris und Babs Becker berichtet hätten. Und jetzt kommt der entscheidende O-Ton: „Tatsächlich jagen nicht wir die Sau, sondern wir laufen der Sau hinterher." Mit anderen Worten: Das Sau-Thema gewinnt eine Eigendynamik, nimmt Fahrt auf, und desto mehr Journalisten sehen sich veranlasst mitzureden und mitzutexten. Dabei ist es scheinbar gleichgültig, dass die Halbwertszeit der Sau recht kurz und mithin die durch Journalisten recherchierten Informationen schnell vergessen sind.
Anstatt blindlings einer wild quiekenden Sau hinterherzurennen und nach der nächsten großen Schlagzeile zu gieren, könnten Journalisten hinterfragen, ob sie wirklich die Sau loslassen oder erst einer Prüfung unterziehen wollen. Es gäbe noch viele andere interessante Baustellen wie die andauernde Griechenland-Krise, die zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft in Arm und Reich oder die ins Stocken geratene Energiewende.