Wie eine trutzige Burg thront das „Hotel Waldhaus Sils" über dem Ort Sils-Maria in der Schweiz. In dem berühmten Luxushotel nächtigten schon Albert Einstein und Loriot.
Er sei so ein „Töfflibueb" gewesen, sagt Felix Dietrich verschmitzt. Der Seniorchef und Kulturmanager des „Hotels Waldhaus Sils" erinnert sich gut daran, wie es für ihn begann. Dietrich, 69, schwarze Haare, grauer Bart, rotes Halstuch und eine stramm sitzende graue Trachtenweste, fuhr als 16-Jähriger mit dem Töffli, dem Moped, von St. Gallen über viele Alpenpässe ins Engadin. Sein Heimatort war dem Bäckerssohn zu spießig, „ins Engadin habe ich mich gleich verliebt".
Denn dorthin, in diese betörende Landschaft zwischen Seen und hohen Bergen, zwischen St. Moritz und dem Malojapass kamen schon seit hundert Jahren Besucher aus ganz Europa. Im „Waldhaus" hob der Felix Tennisbälle auf, half beim Minigolf. „Mit Maria hatte das noch nichts zu tun", erklärt Dietrich, „sie war damals erst zwölf". Aber der junge Dietrich wollte nun ins Hotelfach, es folgten einige Stationen wie Hotelschule in Lausanne und ein Küchenpraktikum in Florenz, „denn Italienisch ist unser Haus-Esperanto", erklärt er, „mit den Mitarbeitern aus Spanien und Portugal reden wir auch italienisch". Felix Dietrich wurde eingestellt, und in seinem Büro saß er dann der Hotelerbin gegenüber, Maria Kienberger.
Modernisierungen wurden sehr behutsam vorgenommen
Das „Waldhaus" ist eine Burg mit vier Türmen, von Zinnen bekrönt. Ein berühmtes Schweizer Luxushotel, über dem Ort Sils-Maria auf einem Hügel stehend, und trotzdem geerdet, irgendwie anders. Vielleicht hat es damit zu tun, dass das trutzige Hotel mit den langen Fluren und dem Belle-Epoque-Treppenhaus seit Anfang an und bis heute in Familienbesitz ist, gebaut von Marias Urgroßeltern, mittlerweile geführt von ihren Söhnen. Wie oft wohl Maria Kienberger-Dietrich, zierlich, graue Haare, Perlenohrstecker und eine filigrane Blütensilberkette über dem schwarzen Pullover, die Geschichte der Anfänge schon erzählt hat? 1908 herrschte im Engadin „ein Bauboom wie heute in Dubai", sagt sie. Das Gründerehepaar war bereits 60 Jahre alt, hatte in großen Hotels gearbeitet, und schuf sich nun etwas Eigenes. „Sie wollten eine sorglose Zukunft für ihre Kinder." Bald hätten die Kinder und Enkel erkannt, dass ohne dieses riesige Hotel die Zukunft weitaus sorgloser gewesen wäre. Ein Weltkrieg, eine Wirtschaftskrise, ein weiterer Weltkrieg, „und danach wollten die Leute etwas Modernes sehen; sie hatten genug von alten Zeiten und alten Sachen".
Und so kamen manchmal im Januar nur acht Gäste am Tag, verloren sich in den Fluren, betreut von 57 Mitarbeitern plus einem Drei-Mann-Orchester. In der Kasse war wenig Geld – und das war im Nachhinein ein Segen für das Hotel, denn renoviert wurde zunächst kaum. Noch bis in die 80er-Jahre hätten Stammgäste gesagt, wann sie endlich die alten Möbel rauschmeißen würden, „aber plötzlich hieß es: Wehe, ihr modernisiert die alte Bar – dann kommen wir nie wieder".
Modernisiert wurde dann schon, aber behutsam. Und bis heute gibt es Zimmer, wie die puppenstubenhafte Suite 170, mit alten Betten und Schränken, weißen Polsterstühlen und einer Badewanne mit metallenen Löwenfüßchen. 1970 wagte man ein Hallenbad – „Jetzt sind die im ‚Waldhaus‘ völlig verrückt geworden, hieß es da" – das Bad sieht noch so aus wie 1970. Altmodern, klare Linien, ohne Chichi. Mit dem Hallenbad ging es dann stetig aufwärts. Von da an „hatten wir gute und weniger gute Jahre. Aber nie mehr schlechte Jahre", sagt Maria Kienberger-Dietrich.
140 Zimmer hat das Hotel, da haben manche in St. Moritz mehr. Aber St. Moritz ist ohnehin weit weg, wenn auch nicht geografisch. Am Abend im Speisesaal sieht man wenig Bling-Bling. Es gebe Gäste, die „ohne mit der Wimper zu zucken, einen ganzen Monat buchen", aber sie hätten auch immer noch günstigere kleine Einzelzimmer, wenig glamourös, „für Menschen, die lange sparen müssen, um einmal hierherkommen zu können. Denn wir wollen unsere Gäste nicht nur nach dem Portemonnaie aussuchen". Günstig, das heißt im Engadin: 300 Franken (260 Euro) für die Übernachtung mit Halbpension im Fünf-Sterne-Hotel.
Mit einem Aufenthalt im „Waldhaus" kann nicht angeben, wer mit Luxus punkten möchte. Aber wer auf Kultur hält, wird gerne davon erzählen. Adorno und Einstein waren hier, Elsa Morante und Donna Leon ebenso. Loriot und Dürrenmatt schrieben ins Gästebuch.
Schon der Großvater habe sich in den 1920er-Jahren um Werbung für das Hotel bemüht, erzählt Kienberger-Dietrich. So fuhr Oskar Kienberger nach London und schaltete in der „Times" ein Inserat. Er logiere im „Hotel Brown", und jedermann könne ihn zur Tea-Time treffen, er würde sich freuen. So hätten dann die Engländer reserviert.
Spa, Hallenbad und ein Kulturprogramm mit Lesungen
Später kam auch Chabrol und drehte einen Film. In der Lounge hängen zwei kleine übermalte Fotografien. Die seien von Gerhard Richter, heißt es. Oder ist nur eine davon ein Original? So rätselt der Gast. Auch da hat sich wenig geändert, der Schweizer Schriftsteller Michel Mettler lässt schon in „Nachtgäste" fragen: „Ist Ihr Hodler echt?"
Maria Kienberger kennt wohl jede noch so versteckte Ecke des Hauses, sie ist hier sogar geboren, „und heute ist das mein Büro. Ich hab’s wohl nicht weit gebracht", sagt sie. Als Kinder liebten sie und ihr Bruder Urs die Zwischensaison, da spielten sie Badminton in der leer geräumten Halle und sausten mit Wäschekörben aus Peddigrohr mit Rollen die Gänge entlang, „das hat so laut getönt". Gruselig seien nur die Mäuse gewesen, die man nicht los wurde. „Wir konnten ja keine Katzen halten, weil die das Mobiliar zerfledderten." Und was ließ sie später an dem schönen, aber doch alten Kasten verzweifeln? Die Wasserschäden, sagt sie sofort. Gäste hätten manchmal im Winter die Heizung ganz abgedreht „und womöglich noch das Fenster offen gelassen". Nach zwei Stunden waren die Rohre geforen, platzten, „und eine schwarze Brühe lief heraus".
Ein bisschen scheint dieses ganze große Hotel zu funktionieren wie die Magneta-Uhr von 1908 im Kassaraum. Eine nur scheinbar klassische Standuhr, eine Holzsäule mit Glas, Zifferblatt, Pendel – und einem schweren Gewicht. Jeden Morgen um 7 Uhr wird sie aufgezogen, und zwölf weitere Uhren im Haus verteilt sind mit dieser Mutteruhr verkabelt, eine „electrische Uhr", aber nicht ans Stromnetzt angeschlossen. Das Aufziehen des Gewichts hält alles in Gang, Tag für Tag.
Natürlich gibt es W-Lan im Haus, aber überall sieht man einzelne Menschen in tiefen Fauteuils mit einem Buch in der Hand. Überhaupt stehen allenthalben Stühle und Sessel, man muss sich nicht im Zimmer verkriechen. Und man muss auch nicht aus dem Haus, und wie man so hört, verbringt mancher Gast den ganzen Aufenthalt drinnen. Verzichtet auf die Kutschfahrt ins autofreie Fextal, spaziert nicht ins Nietzsche-Haus im Dorf, lässt sich auch von den Seen nicht rauslocken.
Das „Waldhaus" feiert sein 111-jähriges Bestehen
Drinnen wartet ein Kulturprogramm, ein Spa, das Hallenbad, Lesungen und wöchentliche Highlights wie der Chef’s Table: Da speisen zwölf Leute in der Küche und schauen der Küchenmannschaft beim Arbeiten zu. Wer allein anreist, kann im Speisesaal an einem großen Tisch Geselligkeit pflegen: „Zusammen isst man weniger allein" heißt es da. Am Abend spielt in der Bar ein Trio, Flügel, Geige und Cello. Ein altes Ehepaar tanzt, die beiden kommen aus der französischen Schweiz. Sie trägt die grauen Haare hochgesteckt und eine weite, senffarbene Hose. Ihr Mann hat eine wilde, grauhaarige Frisur und ist kleiner als sie. Sie halten sich fest.
Und nun gibt es sogar ein Jubiläumsprogramm: 111 Jahre Waldhaus. Christoph Marthaler inszeniert, ein Chor aus Chur singt, Symposien zu Hesse in Silser, eine Buchvorstellung zu Nietzsches Sils – aber 111 Jahre, ist das nicht ein etwas eigenartiger Anlass? „Wir wollten wieder feiern", sagt Felix Dietrich. Und bis es 125 Jahre sind, so lange hätten sie nicht warten wollen, sagt er und grinst, und man kann sich kurz wieder den Jungen vorstellen, der auf sein Töffli geduckt die Schweizer Pässe hinauftuckerte und in diesem Schloss, dieser Burg, diesem altmodischen und deswegen so charmanten Hotelkasten landete.