Wie funktioniert Politik? Welche Kräfte beeinflussen Entscheidungen? Das gerade jungen Menschen zu erklären, ist gar nicht einfach. Planspiele können dabei helfen, das politische Verständnis zu schärfen und über den Tellerrand zu blicken.
Der Auftakt in den Wahlkampf geht für die Sozialisten schon einmal gründlich in die Hose. Nacheinander sind die Schüler verschiedener Berliner Schulen, die sich an diesem Tag zum Planspiel zur Europawahl versammelt haben, vorgetreten, um aus einem kleinen Stoffsäckchen einen Zettel zu ziehen und damit festzulegen, wer an diesem Tag welche Partei repräsentiert. Doch als sich die Gruppen kurz darauf zusammentun, ist die kleine Schar der Sozialisten doch arg überschaubar. „Das ist ja wie in Wirklichkeit", meint einer der Anwesenden und hat damit die Lacher auf seiner Seite. Schließlich laufen auch der SPD in jüngster Zeit zusehends die Mitglieder davon.
Es war vermutlich nur ein dummer Zufall, dass die Sozialisten an diesem Tag personell etwas schlechter aufgestellt sind, doch andererseits passt es irgendwie auch. Immerhin orientiert sich ein Planspiel sehr eng an der Realität, um damit das Verständnis für die tatsächlichen politischen Prozesse zu schärfen. „Ein Planspiel ist kein Rollenspiel", sagt Simon Raiser, einer der Gründer von Planpolitik. Der Anbieter aus Berlin organisiert mittlerweile bundesweit solche Veranstaltungen. Im Rollenspiel geht es ja meistens um individuelle Charaktere mit einer relativ großen Handlungsfreiheit. Die Teilnehmer an Planspielen vertreten hingegen die Interessen gesellschaftlich relevanter Gruppen: Parteien, Regierungen, Bürgerinitiativen. Dabei können die Teilnehmer ihre Rolle nur innerhalb eines relativ engen Rahmens gestalten.
„Entscheidend für ein Planspiel ist, dass die Teilnehmenden die Interessen und Positionen der von ihnen dargestellten Akteure verinnerlichen und dadurch ein besseres Verständnis für die Dynamik und Komplexität gesellschaftlicher Prozesse und Konflikte entwickeln. Sie müssen sich in den Hintergrund der von ihnen vertretenen Akteure einarbeiten, aus deren Perspektive diskutieren und verhandeln, Koalitionen schmieden, um eine gemeinsame Entscheidung zu erreichen", erklärt Simon Raiser.
Sehr enge Orientierung an der Realität
Während des Politikstudiums am Berliner Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität hatte er in den Neunzigerjahren erstmals von der Methode erfahren. Einmal im Jahr gab es dort das Krisenspiel: ein mehrtägiges Planspiel zu realen internationalen Konflikten im Nahen Osten, Somalia oder Sudan. „Das war allerdings kein reines Verhandlungsspiel, sondern aktionsbasiert. Man konnte Stellungen des Gegners angreifen oder einen Politiker der Gegenseite einfach entführen. Vor allem am letzten Tag wurde das manchmal ziemlich absurd", erinnert er sich.
Raiser schwört trotzdem auf das Prinzip Planspiel. „Insbesondere jungen Menschen zu erklären, wie Politik funktioniert, ist keine leichte Aufgabe. Lehrbücher können zwar die Entscheidungsabläufe vermitteln und diese mit allerlei Fakten unterfüttern, sehr viel schwerer ist es hingegen, die politischen Dynamiken verständlich zu machen, die zu einer bestimmten Entscheidung geführt haben", sagt er. 2005 machte er sich deshalb gemeinsam mit seinem Kommilitonen Björn Warkalla selbstständig und gründete Planpolitik. Damals waren Planspiele in Deutschland – anders als im angelsächsischen Raum – noch kaum verbreitet, doch mittlerweile gibt es zahlreiche private und öffentliche Anbieter. „Wenn man sich heute in einem beliebigen Seminar umhört, hat sicher die Hälfte der Studierenden schon einmal ein Planspiel mitgemacht", sagt Simon Raiser. Momentan geht der Trend zum verstärkten Einsatz digitaler Elemente – etwa mithilfe von Rollenprofilen auf dem Smartphone anstatt auf Papier. Planspiel Plus nennt Raiser diese Entwicklung, die noch längst nicht abgeschlossen ist.
Die Themen der Planspiele sind vielfältig und reichen von UN-Konferenzen über die Bundespolitik in all ihren Facetten bis hin zu eher lokalen Fragestellungen wie dem geplanten Neubau einer Moschee in der Nachbarschaft oder der Rückkehr des Wolfes. Insgesamt hat Planpolitik über 100 verschiedene Planspiele im Angebot. Der Fokus liegt aber auf Europa – und 2019, im Jahr der Europawahl, erst recht.
Auch das Berliner Planspiel handelt davon. Nach einer kurzen Einführung über die Besonderheiten des Europaparlaments bekommen die Schüler die Aufgabe, für die jeweilige Partei selbst einen Europawahlkampf auf die Beine zu stellen – komplett mit Wahlplakat, Flyer und Wahlwerbespot. „Auf diese Weise kann man auf spielerische Weise erleben, wie viel Aufwand hinter einem solchen Wahlkampf steckt", meint Hannah, eine der Teilnehmerinnen. „Mir persönlich macht so etwas viel Spaß. Das Schöne an einem Planspiel ist, dass man dabei selbst nachdenken muss und nicht so schnell abschaltet wie bei einem reinen Vortrag."
Hannah tritt an diesem Tag für die Grünen an, denen sie auch sonst politisch nahesteht. Andere hat es da härter getroffen. Keiner der Mitglieder der fiktiven Nationalpartei etwa würde im echten Leben wohl die AfD wählen. Trotzdem ist gerade deren Spitzenkandidat Radwan, ein gebürtiger Araber, besonders engagiert bei der Sache. „Ich hatte vier Jahre Schauspielunterricht, da passt das schon", meint er. Das Planspiel sei ein interessantes Format, um auch einmal andere Positionen kennenzulernen und den gesamten Prozess besser zu verstehen.
Mal andere Positionen als die eigene vertreten
„Es ist immer hilfreich, wenn man auch einmal über den eigenen Tellerrand blickt und Dinge, die man bislang für gegeben hielt, überdenkt. Auf diese Weise kann man sich ein reflektierteres Urteil bilden", sagt Simon Raiser. „Das Eindenken in möglicherweise unvertraute oder auch unsympathische Positionen kann zu einem Hinterfragen der eigenen Ansichten führen und das Bewusstsein dafür fördern, dass auch andere Sichtweisen legitim sind – auch wenn sie nicht den eigenen entsprechen. Diese Empathie für andere Meinungen ist die Basis einer Demokratie, die mit friedlichen Mitteln zu Entscheidungen über gemeinsame Belange kommen möchte." Darüber hinaus fördert ein Planspiel – neben dem politischen Verständnis – noch weitere sogenannte Soft Skills: die Kunst zu argumentieren, Teamarbeit sowie Konflikt- und Kompromissfähigkeit. Deswegen kann auch nahezu jede Altersgruppe mitmachen, Grundschüler ab zehn Jahren ebenso wie Menschen mit bereits langjähriger Berufserfahrung. Die meisten Teilnehmer sind jedoch Oberschüler. „Viele merken während des Spiels gar nicht, dass sie gerade etwas lernen. Diese Erkenntnis kommt oft erst im Nachhinein bei der Auswertung, die zu jedem Planspiel dazugehört", sagt Simon Raiser.
Allerdings ist ein Planspiel notwendigerweise vereinfacht. Eine fiktive UN-Vollversammlung mit 198 Staaten hat wenig Sinn, stattdessen kommen im Spiel vielleicht ein Dutzend Länder vor. Zudem fehlt bei den meisten internationalen Planspielen die nationale Ebene, die in Wirklichkeit entscheidenden Anteil daran trägt, ob etwa ein Abkommen ratifiziert wird. „Auch deshalb ist die Auswertung im Anschluss so wichtig", sagt Raiser. Da ist dann auch Platz, um noch weitere nicht durchgespielte Verästelungen anzusprechen. Doch selbst mit diesen Einschränkungen hilft ein Planspiel, zu begreifen, wie kompliziert Politik sein kann. Hannah jedenfalls meint nach ihrem Europawahlkampf: „Jetzt weiß ich, warum das in der Realität manchmal so lange dauert!"