Deutschland hat endlich wieder einen Siegschwimmer. Doppel-Weltmeister Florian Wellbrock soll die tief gefallene Sportart zurück nach oben führen, doch als Entertainer sieht er sich nicht.
Als Florian Wellbrock in Südkorea Schwimmgeschichte schrieb, schaute in Deutschland kaum jemand hin. Das lag nicht nur am großen Zeitunterschied – die WM-Finals fanden in den frühen Morgenstunden deutscher Zeit statt. ARD, ZDF und auch Eurosport hatten außerdem darauf verzichtet, Livebilder in ihrem Hauptprogramm zu zeigen. Einzig via Livestream bei ZDF konnten die Schwimmfans zuschauen. Ein wichtiger Grund für die Entscheidung der TV-Sender waren die reichlichen Misserfolge der deutschen Schwimmer in den vergangenen Jahren. Jetzt gibt es aber zarte Hoffnung, dass das Interesse an der Sportart, die einst durch Stars wie Franziska van Almsick und Britta Steffen ein Millionenpublikum begeisterte, wieder steigt. Und diese Hoffnung hat einen Namen: Florian Wellbrock.
Der 21-Jährige siegte in Südkorea sowohl im Freiwasser über die olympische Zehn-Kilometer-Distanz als auch im Becken über 1.500 Meter. Ein Doppel-Gold drinnen und draußen war zuvor noch keinem Menschen bei einer Weltmeisterschaft gelungen. Deutschland hat endlich wieder einen Siegschwimmer, der auch bei Olympia 2020 in Tokio in beiden Disziplinen als Goldkandidat an den Start geht. „Ich habe gezeigt, dass ich auf großer Bühne schwimmen kann", sagt Wellbrock. „Da machen wir nächstes Jahr das Beste draus." Das Beste – wer Wellbrock kennt, der weiß, dass das nur der erste Platz bedeutet. „Er tritt immer an, um Rennen zu gewinnen. Etwas anderes hat er gar nicht auf dem Zettel", sagt sein Heimtrainer Bernd Berkhahn.
TV-Sender verzichteten auf Live-Übertragung im Hauptprogramm
Der zum Teamchef der deutschen Schwimmer aufgestiegene Berkhahn versucht dennoch, öffentlich die Erwartungen zu dämpfen. Als Wellbrock bei der WM im 800-Meter-Rennen völlig überraschend im Vorlauf ausgeschieden war, schob Berkhahn dies vor allem auf den gestiegenen Druck von außen. „Da wurde gemutmaßt: Hier ist der Hoffnungsträger, und der rettet das deutsche Schwimmen", sagte Berkhahn. „Damit muss ein junger Mann erst mal klarkommen. Das ist schon Druck." Als die Erwartungshaltung nach dem 800-Meter-Rennen deutlich kleiner war, lieferte Wellbrock plötzlich ab. In einem der spannendsten 1.500-Meter-Finals der WM-Geschichte kochte der Magdeburger den italienischen Olympiasieger Gregorio Paltrinieri und den ukrainischen Langstreckenstar Michailo Romantschuk nach einer taktischen Meisterleistung ab und holte für den Deutschen Schwimm-Verband (DSV) die einzige Goldmedaille der Titelkämpfe auf der 50-Meter-Bahn in Gwangju.
Für Ex-Schwimmstar Paul Biedermann, den bis dahin letzten deutschen Doppel-Weltmeister, ist Wellbrock ab jetzt „der klare Favorit" bei Olympia im Freiwasser und im Becken über 1.500 Meter. Die Erwartungshaltung wird also nicht kleiner – im Gegenteil. Zumal Wellbrock irgendwie auch die ganze Sportart mit nach vorne ziehen muss. „Er hat das Zeug dazu, das Gesicht des deutschen Schwimmsports zu werden", sagt Freiwasser-Bundestrainer Stefan Lurz. „Die Zeit dafür ist reif." Wellbrock ist aber keiner, der das Rampenlicht freiwillig sucht. Er ist ein eher in sich gekehrter Mensch, der eigentlich nur eines tun möchte: schwimmen. „Ich werde oft gefragt, ob ich jetzt der neue Paul Biedermann bin. Für mich ist das überhaupt nicht relevant", sagt er. „Ich mache auf der Tribüne nicht den Hampelmann oder schwinge irgendwelche Reden." Deswegen gibt es von ihm jetzt auch keine großen Kampfansagen Richtung Tokio, wo es wieder den „doppelten Wellbrock" im Freiwasser und Becken geben wird. „Nächstes Jahr", sagt er betont vorsichtig, „werden die Karten neu gemischt."
Eines gab der vor wenigen Wochen ausgelernte Immobilienkaufmann aber zu: Mit Olympia habe er „definitiv" noch eine Rechnung offen. Bei seinen ersten Sommerspielen 2016 in Rio war der damals 18-Jährige komplett überfordert. Das einst große Talent lief staunend durchs Athletendorf und die Schwimmhalle – es fehlte ihm völlig an Konzentration. Die Konsequenz: Vorlauf-Aus über 1.500 Meter in einer Zeit, die 48 Sekunden über seiner Siegerzeit von Gwangju lag. „Der Schritt auf den Startblock", gestand Wellbrock damals, „hat mich einfach erschlagen." Doch drei Jahre später erlebt die Schwimmszene einen völlig anderen Wellbrock. Einen, den die Konkurrenz nicht einschüchtert, sondern die ihn zu Höchstleistungen anstachelt. „Ich kann mich noch an die WM 2009 erinnern, als Paul Biedermann gegen Michael Phelps geschwommen ist. Das hat mich fasziniert und motiviert", sagt er. „Jetzt schwimme ich zwar nicht gegen Biedermann oder Phelps, aber gegen andere große Namen. Das ist ein tolles Gefühl, das treibt einen jeden Tag an."
„Das treibt einen jeden Tag an"
Ehrgeizig war Wellbrock schon immer. Im Alter von 17 Jahren kehrte er seiner Heimatstadt Bremen den Rücken, weil er in Magdeburg unter Trainer Berkhahn deutlich größere Chancen auf einen internationalen Durchbruch sah. Doch in der Anfangszeit tat sich der Teenager schwer mit den deutlich größeren Trainingsumfängen, mit der neuen Umgebung, mit dem Heimweh nach Familie und Freunden. „Es war alles Mist", erinnert sich Wellbrock zurück. Zwischendurch kamen ihm sogar ganz düstere Gedanken. „Ich fragte mich: Wenn ich mir das hier alles antue, was mir eigentlich gerade nicht passt, und morgen überrollt mich ein Lastwagen – dann habe ich die vergangene Zeit scheiße gelebt. Für nichts", sagte Wellbrock der Tageszeitung „Die Welt". Solche Gedanken sind vielleicht auch mit dem traurigen Schicksal seiner Schwester Franziska zu erklären. Sie starb bei einem Schwimmrennen im Alter von nur 13 Jahren, Florian war acht. Schon seinerzeit war er in einen Schwimmverein eingetreten, ans Aufhören hatte er nicht gedacht. „Ich habe einfach weitergemacht. Und ich glaube nicht, dass es mich in meiner persönlichen Entwicklung geprägt hat", sagt er. Und dennoch hat er sich den Satz aus einem Lied des Rappers Sido auf die Brust tätowieren lassen: „Genieß dein Leben ständig, du bist länger tot als lebendig."
Einen Leistungsschub erfuhr Wellbrock auch, als er seine Freundin Sarah Köhler kennenlernte. Die erfahrenere Freistilschwimmerin zeigte ihm, wie er im Wettkampf nicht am Druck zerbricht. Sie stärkte sein Selbstvertrauen. Sie zog auch für ihn von Frankfurt nach Magdeburg um. Dieser Schritt zahlte sich auch für Köhler selbst aus: Bei der WM holte die 25-Jährige Gold mit der Freiwasser-Staffel, Silber in deutscher Rekordzeit über 1.500 Meter und über 800 Meter knackte sie die 32 Jahre alte Bestmarke von Anke Möhring. „Besser hätte es für mich nicht laufen können", sagte Köhler. Ihre Magdeburger Teamkollegin Franziska Hentke, die als Vizeweltmeisterin über 200-Meter-Schmetterling an den Start gegangen war, konnte das nicht behaupten. Der undankbare vierte Platz war dabei einfacher zu verschmerzen als ihre Zeit, die deutlich über dem lag, wozu die 30-Jährige imstande ist. „Das ist bitter für mich", sagte Hentke.
Philipp Heintz schrammte als Vierter über 200-Meter-Lagen ebenfalls knapp an einer Medaille vorbei, doch der Vizeeuropameister war geradezu euphorisiert nach seinem Rennen. „Für mich ist das hier ein Sieg", sagte er, der drei Monate wegen Schulter- und auch Motivationsproblemen pausiert hatte.
„Aufbruchstimmung in der Nationalmannschaft"
Und im Hochgefühl rief der Heidelberger sogar den Olympiasieg als nächstes Ziel aus: „Ich bin wieder der alte Philipp, ich bin wieder der, der 100 Prozent gibt und der sagt, dass ich nächstes Jahr das Ding gewinnen werde." Thomas Kurschilgen hat diesen Satz gerne vernommen. Das spreche für ein „gesundes Selbstvertrauen", sagte der Leistungssportdirektor im Deutschen Schwimm-Verband (DSV), „und es zeigt auch die Aufbruchstimmung in dieser Nationalmannschaft. Die Athleten glauben an sich und daran, mit einer guten Vorbereitung in der Weltspitze bestehen zu können."
Tatsächlich ist nach dem Neustart unter dem Kompetenzteam Tokio 2020 ein Aufwärtstrend zu erkennen gewesen. Im Vergleich zur WM 2017 erhöhte sich die Medaillenanzahl von eins auf zwei, die der Finalteilnahmen von fünf auf 14. Zudem konnten sich alle sieben Staffeln das Startrecht für Olympia erkämpfen, wo sie allerdings – Stand heute – im Kampf um die Medaillen chancenlos sind. Das Herabsenken der Qualifikationsnormen und der ausgedehnte Zeitraum dafür hatten jedenfalls positive Auswirkungen.