Die in Berlin lebende Pianistin Danae Dörken gründete 2015 mit ihrer Schwester inmitten der Flüchtlingskrise das Molyvos-Musikfestival auf der griechischen Insel Lesbos, wo täglich Boote mit Flüchtlingen anlandeten. Jetzt geht das Festival bereits in die fünfte Runde.
Frau Dörken, wieso haben Sie sich ausgerechnet für Lesbos als Festivalort entschieden?
Unsere Familie mütterlicherseits kommt von dort. Meine Schwester und ich haben als Kinder jeden Sommer in der Hafenstadt Molyvos verbracht, wo unsere Großeltern geboren wurden. So kamen wir auf den Gedanken, diesen schönen Ort mit klassischer Musik zu verbinden. Zuerst haben wir unsere Musiker-Freunde eingeladen. Anfangs konnten wir keine Gage zahlen, sondern haben sie überredet, auf der Insel Urlaub zu machen und zwischendurch aufzutreten.
Molyvos ist nur acht Kilometer von der Türkei entfernt, hat eine interessante Geschichte. Es gibt eine byzantinische Burg, eine alte Moschee und griechische Ruinen. Auf dem Berg oberhalb der Stadt liegt eine Burgruine, die man nur zu Fuß erreichen kann. Hier finden unsere Konzerte statt.
Für die Sie ja auch einen Flügel brauchen – wie gelangt er dorthin?
Er kommt mit der Fähre aus Athen. Das letzte Stück, das man nicht mehr mit dem Auto fahren kann, wird er die Stufen raufgetragen. Ein Klavierstimmer bleibt vor Ort, denn angesichts der Luftfeuchtigkeit und Temperaturschwankungen wird er ständig gebraucht.
In den ersten Festival-Durchgang 2015 fiel der Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Wie haben Sie das erlebt?
Alle haben improvisiert, denn es gab noch keine Camps. So mussten die Flüchtlinge beispielsweise auf dem Schulhof übernachten. Es war eine tolle Erfahrung, so viel Hilfsbereitschaft zu erleben. Wir haben Flüchtlinge in die Konzerte eingeladen. Manche sagten, Musik sei das Letzte, das die Geflüchteten in der Situation bräuchten. Aber die Neuankömmlinge waren sehr berührt und haben uns ihre Geschichten erzählt.
Und wie sieht es jetzt aus – vier Jahre später? Wie ist derzeit der Kontakt zu Flüchtlingen auf Lesbos?
In unsere Konzerte können sie nicht kommen, weil sie die Lager nicht verlassen dürfen. Wir haben aber mehrmals in den Lagern gespielt. Es gibt Programme für die unbegleiteten Kinder, die in die Schulen auf der Insel integriert werden sollen. Wir haben mit diesen Kindern Musik gemacht; teilweise in Begleitung von Übersetzern. Auch ohne eine gemeinsame Sprache, allein mit klatschen und singen kann man viel erreichen.
Nervt es Sie eigentlich, wenn Journalisten mit Ihnen mehr über die Flüchtlinge als über Musik reden wollen?
Überhaupt nicht. Als Künstlerin habe ich das Privileg, mich öffentlich äußern zu können zu Musik und anderen Themen. Das nutze ich natürlich. Alles andere wäre genauso blöd, wie etwa nicht wählen zu gehen.
Was hat sich durch die Begegnungen mit einem so speziellen Publikum verändert?
So einiges. Nicht nur die Flüchtlinge, auch die Griechen auf Lesbos, hören normalerweise keine Klassik. Dabei hat klassische Musik eine besondere Kraft, da sie komplexer ist, die Stücke oft lang sind. Zuhören erfordert Geduld und Konzentration. Man muss sich beim Hören auf eine innere Reise einlassen. Meine Erfahrung ist, dass gerade die Menschen, die das zum ersten Mal erfahren, besonders offen dafür sind.
Wie hat sich das Festival in den letzten fünf Jahren entwickelt?
Vieles ist jetzt strukturierter, die Aufgaben sind klarer verteilt. In den ersten Jahren haben meine Schwester und ich quasi alles gemacht. Jetzt beschränken wir uns auf die künstlerische Leitung; wir gestalten das Programm und laden die Musiker ein.
Was haben Sie sich für diese Festivalausgabe einfallen lassen?
Wir wählen jedes Jahr ein Thema, das nicht nur musikalisch interessant, sondern auch sonst relevant für die Menschen vor Ort ist. In diesem Jahr lautet das Motto „Dialog". Es gibt viel zu viele Monologe auf der Welt. Daher ist es wichtig, in Dialog zu treten: mit anderen Menschen, anderen Kulturen, anderen Musikrichtungen. Und natürlich hat die Idee des „dialogos" ihre Wurzel im alten Griechenland.
Wie spiegelt sich dieses Motto im Konzertprogramm?
In zahlreichen Stücken, die zum Thema Dialog passen. Darunter ist eine Uraufführung des griechischen Komponisten Nickos Harizanos. Oder das „Lamento für zwei Bratschen" von Frank Bridges, bei dem es wirklich darum geht, dass die beiden Bratschen miteinander kommunizieren. Klassische Stücke für zwei Instrumente oder Stimme und Piano gibt es ja viele. Zusätzlich veranstalten wir schon vor dem eigentlichen Festival einige Konzerte, die nicht mit dem Motto zusammenhängen. Sie finden an verschiedenen Orten statt, damit das Publikum die schöne Insel kennenlernen kann. Da fahren wir dann alle gemeinsam mit einem Bus hin.
Woher kommt das Festivalteam?
Die meisten unserer Mitstreiter sind Griechen, die in Athen wohnen und für das Festival nach Molyvos kommen. Das Publikum wiederum ist sehr gemischt: Einwohner, Griechen von anderswo und ausländische Touristen, die zum Festival anreisen.
Letzteres ist nicht ganz einfach, denn alle Direktflüge sind gestrichen.
Das ist genau das Gegenteil von dem, was die Insel braucht. Die Einwohner haben so viel gegeben für die Flüchtlinge. Nun werden sie bestraft, da die touristischen Einnahmen deutlich niedriger ausfallen als vor 2015.
Damals gingen Bilder von der Insel durch die Medien, die das touristische Image nicht gerade positiv beeinflusst haben. So werde ich häufig gefragt, ob es denn sicher sei, zum Festival zu kommen.
Welche Rolle spielt das Festival, insbesondere das Education Program, für die Einheimischen?
Es ist wichtig, auf jeden Fall; wir werden sehr positiv empfangen.
Häufig gehen wir in die Schulen, spielen und reden mit den Kindern, um so einen ersten Zugang zur klassischen Musik zu ermöglichen. Das machen wir im Winter und zu Ostern. Mittlerweile bin ich vier bis fünfmal im Jahr vor Ort. Das, finde ich, ist eine schöne Entwicklung.
Abgesehen vom Festival und den damit verknüpften Reisen nach Molyvos: Wie sieht Ihr Alltag normalerweise aus?
Vor fünf Jahren, nach dem Studium, bin ich nach Berlin-Schöneberg gezogen. Als ich schwanger wurde, wollten wir lieber ein Haus, ohne Nachbarn, wo ich auch mal nachts üben kann. Jetzt sind wir am Stadtrand gelandet, in Königs Wusterhausen südöstlich von Berlin. Meine Kinder sind zwei Jahre und sechs Monate alt. Sicher sind beide in einem herausfordernden Alter, aber eigentlich läuft alles genauso weiter wie vorher. Noch zehn Tage vor der Geburt meines zweiten Kindes habe ich vor Angela Merkel beim Festakt „100 Jahre Frauenwahlrecht" gespielt. Mein Mann kann zum Glück ziemlich flexibel arbeiten; da reisen wir jetzt halt zu viert zu meinen Konzerten.
Was steht demnächst an?
Im November spiele ich in Luzern beim Piano-Festival. Im Oktober bin ich in Kanada. Im Februar gehe ich auf meine erste Japan-Tournee. Dazu kommen jetzt die Solo-Stücke zu meiner neuen CD.
Ihre jüngere Schwester Kiveli ist auch Pianistin geworden. Sie waren also bestimmt nicht einsam am Klavier oder?
Natürlich kann es einsam sein, mehrere Stunden am Tag zu üben. Wir haben aber als Kinder und Jugendliche auch ganz andere Erfahrungen gemacht und beispielsweise bei Meisterkursen und Konzertreisen interessante Leute kennengelernt. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich etwas verpasse. Kiveli und ich musizieren immer noch häufig zusammen; das macht großen Spaß. Das vierhändige Spiel ist für uns naheliegend, weil wir uns auch sonst bestens verstehen.
Sie studierten bei Karl-Heinz Kämmerling in Hannover, der auch erfolgreiche Pianisten wie Alice Sara Ott oder Igor Levit unterrichtet hat. Gab es da ein starkes Konkurrenzgefühl?
Ja, das Niveau war unglaublich hoch. Es gab Vorspiele, wo alle nacheinander dasselbe Stück gespielt haben. Aber ich habe dadurch auch viel gelernt. Wer das mitgemacht hat, kann überall spielen. Der Druck ist letztlich ein Teil des Musiker-Jobs. Wer den nicht aushält, kommt nicht weit.
Haben Sie Lieblingskomponisten?
Ich mag die Romantiker wie Schumann und Brahms. Gerade spiele ich häufig das Klavierkonzert von Clara Schumann. Aber ich beschäftige mich auch viel mit griechischer und osteuropäischer Musik, das hört man auch auf meiner CD „East and West". Hier stelle ich vier östliche und vier westliche Kompositionen einander gegenüber, die alle folkloristische Einflüsse haben. Zum Beispiel der „Feuertanz" des Spaniers Manuel de Falla, oder die „Preludes" von Manolis Kalomiris mit ihren griechischen Melodien und Rhythmen. Jedes Land hat seine einzigartige Musik; gleichzeitig bringt die Musik uns alle zusammen.