Brandenburg und Sachsen machen den Auftakt zum ostdeutschen Wahlherbst. Es geht aber um mehr als nur drei Landtagswahlen. Die ostdeutsche Entwicklung verändert das gesamte Land – und das stärker, als bislang wahrgenommen.
Die Nervosität steigt. Im Westen kann kaum einer nachvollziehen, was sich da in den Ost-Wahlkämpfen abspielt. Die Wahlkämpfe wiederum scheinen ziemlich zutreffend das abzubilden, was der Stimmungslage in Sachsen und Brandenburg, schließlich auch in Thüringen entspricht. Dass Deutschland ein gespaltenes Land ist, lässt sich nicht mehr ignorieren. Während sich im Westen die Einschätzung von Ossis als undankbar zäh hält, empfinden sich diese weiterhin als abgehängt. Milliardenschwere Programme für den Aufbau Ost mögen vielleicht ein saniertes Straßennetz und schöne Ortskerne geschaffen haben, aber auch nach einer Generation sitzt die Erfahrung der Nachwendezeit mit dem rabiaten Vorgehen der Treuhand tief. Tiefer, als man es im Westen lange wahrhaben wollte.
Die Folgen sind an harten Fakten und Statistiken ablesbar. Die sagen aber wenig bis nichts über die emotionalen Verwerfungen. Einiges davon ist in der jüngsten Auseinandersetzung um das Milliardenförderprogramm zur Begleitung des Strukturwandels nach der Braunkohle-Ära deutlich geworden. Die zeigte auch überdeutlich, dass noch deutlich mehr schiefgelaufen ist.
Die Solidarität im Westen war außerordentlich hoch. Selbst Haushaltsnotlageländer wie das Saarland oder Schleswig-Holstein leisteten einen Beitrag. Als dann in Teilen der West-Länder die Schuldenbremse einen rigiden Sparkurs erzwang, blieben Investitionen auf der Strecke. Die wenig verwunderliche Folge: Auch West-Regionen stehen jetzt auf der Liste jener Landesteile, die das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in einer drohenden Abwärtsspirale sieht. Regionen, geprägt von hartem Strukturwandel und demografischer Entwicklung, im Osten wie im Westen.
An die mit gleich mehreren Bundesministern besetzte Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse werden hohe Erwartungen geknüpft. Sie ist auch als eine Folge einer besorgniserregenden Entwicklung in etlichen Regionen, die längst nicht alle im Osten liegen, zu sehen. Unter deutscher Einheit hatten sich die meisten etwas anderes vorgestellt.
Politisch ist die Spaltung bei der Europawahl Ende Mai bestätigt worden. Jüngste Umfragen vor den Landtagswahlen deuten darauf hin, dass die Ergebnisse am 1. September (und später im Oktober in Thüringen) noch deutlicher ausfallen. Nach einer Emnid-Umfrage (Bundestags-Sonntagsfrage) lag die AfD im Osten mit 23 Prozent vorn, knapp dahinter die CDU mit 22 Prozent. Im Westen dagegen käme die CDU auf 27 Prozent, die Grünen folgen direkt mit 25 Prozent vor der SPD mit 13; die AfD liegt erst auf Platz vier (12 Prozent).
Die AfD zieht mit ihrer „Wende 2.0" durch die Ost-Wahlkämpfe und scheint damit den Nerv so vieler Menschen zu treffen, dass sie sich realistische Chancen ausrechnen darf, als stärkste Partei aus den Wahlgängen hervorzugehen. Wobei die Protagonisten der selbsternannten neuen Bürgerbewegung West-Importe sind: AfD Spitzenkandidat Andreas Kalbitz (Brandenburg) stammt aus Bayern, Björn Höcke (Thüringen) aus dem westfälischen Lünen. Die Linke, lange Zeit die Ost-Partei schlechthin, hat diesen Nimbus längst eingebüßt. Die SPD befindet sich im Existenzkampf, die Grünen haben in der jüngeren Vergangenheit im Osten keine besondere Rolle gespielt, ähnlich wie auch die FDP.
Über potenzielle Koalitionen wird derweil heftig spekuliert. Insbesondere die CDU tut sich schwer in der Frage, ob die AfD nicht doch als möglicher Partner in Betracht kommen könnte. Die Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat zwar einen Abgrenzungsbeschluss durchgesetzt – auch unter dem Aspekt, dass die AfD im Osten deutlich anders tickt als im Westen. Allerdings sieht man das insbesondere auf kommunaler Ebene in Teilen durchaus anders. Am Ende könnte es weitere ostdeutsche Sonderwege geben mit Koalitionen, die im Westen nur schwer vorstellbar wären – derzeit zumindest. Womöglich ein weiteres Signal, das sichtbar macht, dass die ostdeutsche Entwicklung Deutschland insgesamt mehr verändert, als es in großen Teilen des Westens bewusst registriert wird.