Die Bahn soll zum Klimaretter werden. Mehr Züge, bessere Verbindungen, ein modernisiertes Schienennetz – so würden sich mehr Menschen gegen Straße und Flugzeug und für die Bahn entscheiden.
Von seinem Büro aus genießt Bahnchef Richard Lutz einen weiten Blick hinüber zum Berliner Hauptbahnhof. Dazwischen liegt noch die Regierungszentrale mit Bundestag und Kanzleramt, aus der oft genug Kritik zu vernehmen ist. Im Moment ist es anders. Statt Dauerschelte wegen Verspätungen und ausfallender Klimaanlagen, verschmutzter Toiletten und hoher Preise setzt es ein riesiges Lob. Die Bahn soll zum Klimaretter Nummer eins im Verkehr werden und doppelt so viele Menschen transportieren wie bisher. „Das wird nicht von heute auf morgen gehen", wiegelt Lutz Erwartungen an schnelle Verbesserungen im Schienenverkehr ab.
Das Stimmungshoch im Bahntower hat gute Gründe. Der einstige Kanzleramtsminister und heute für die Trassen verantwortliche Vorstand Ronald Pofalla hat die Bundesregierung zu einem finanziellen Kraftakt überredet. Das Ergebnis: 86 Milliarden Euro steckt der Bund in den kommenden zehn Jahren in die Renovierung des maroden Bahnnetzes, zum größten Teil aus Steuermitteln, zu einem kleineren durch die Erträge der Bahn selbst. Damit werden 2.000 Brücken saniert, Gleise ausgewechselt, Weichen instand gesetzt. Ganz sicher ist der Geldsegen zwar noch nicht. Letztlich muss der Bundestag im November noch grünes Licht für das Bekenntnis zu einem funktionsfähigen Schienensystem geben. Die Zustimmung dürfte jedoch nicht infrage stehen.
Damit nicht genug. Seit Jahren setzen sich die Grünen und Bahnverbände für eine Absenkung der Mehrwertsteuer im Fernverkehr ein. 19 Prozent werden für Fernfahrten ab einer Distanz von 50 Kilometer an den Finanzminister abgeführt. Bei kürzeren Distanzen und im Nahverkehr sind es sieben Prozent. Erst hatte sich im Frühjahr Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) auf die Seite der Grünen geschlagen, nun tat es auch sein Parteichef, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Die Grünen haben dessen Plädoyer für eine Senkung prompt genutzt und bringen zur ersten Sitzung des Bundestags ein Gesetz dazu ein. Damit könnte die Mehrwertsteuer auf Zugtickets schnell auf generell sieben Prozent gesenkt werden. „Unsere Kunden würden von einer niedrigeren Mehrwertsteuer erheblich profitieren – sei es in Form neuer attraktiver Angebote oder reduzierter Ticketpreise. Auch eine Kombination aus beidem ist natürlich denkbar", verspricht der Bahnchef. Er rechnet mit bis zu fünf Millionen zusätzlichen Fahrgästen.
Angebot wird stark ausgebaut
Beides, die Zusage für eine Instandhaltungsoffensive und die Diskussion über die Mehrwertsteuer stehen für eine Richtungsentscheidung des Bundes. Die Bahn soll eine zentrale Rolle bei einer Verkehrswende hin zu einer umweltverträglichen Mobilität einnehmen. Im Verlauf des nächsten Jahrzehnts wird das Angebot im Zugverkehr massiv zum sogenannten Deutschland-Takt ausgebaut. Am Ende sollen alle Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern im Stundentakt an das Schienennetz angebunden sein. Damit werden viele zwischenzeitlich vom schnellen Bahnverkehr abgekoppelten Regionen wieder zu einem Teil des Fernnetzes.
Zwischen den Metropolen wird sogar alle 30 Minuten ein Zug verkehren. Das ist eine echte Alternative sowohl zur Fahrt mit dem Auto als auch dem Inlandsflug. Bequem, schnell und sicher –
mit diesen Schlagworten lässt sich gut für ein anderes Mobilitätsverhalten werben. Und es schafft Akzeptanz für den Verzicht auf das Auto. So erscheint die weitere Steigerung der Passagierzahlen von geschätzt 150 Millionen in diesem Jahr auf 260 Millionen im Jahr 2030 durchaus machbar.
Heutige Bahnfahrer können sich eine so angenehme Aussicht vermutlich kaum vorstellen. Das aktuelle Angebot der Bahn ist an vielen Stellen schwach. Es mangelt an fast allem, der Pünktlichkeit, ausreichend vielen Zügen, funktionierenden Klimaanlagen oder gut ausgestatteten Speisewagen. Die Vielzahl der Baustellen lässt erahnen, dass sich die Situation für die Fahrgäste nur sehr langsam verbessern wird.
Dabei investiert der Konzern schon Milliarden in das rollende Material. Rund 1.000 IC-Wagen werden bis Ende 2021 rundum erneuert und mit W-Lan ausgestattet. Das Flaggschiff, der ICE 4, kommt nach und nach auf die Gleise. Rund sechs Milliarden Euro gibt die Bahn bis 2025 für 137 neue ICE 4 aus. Zum Vergleich: 2018 bestand die gesamte Flotte an Hochgeschwindigkeitszügen aus 274 ICE. Das Unternehmen nutzt zudem jede sich bietende Gelegenheiten zum Kauf weiterer Kapazitäten. Gerade erst wurden 17 gebrauchte Doppelstock-Züge von der West-Bahn in Österreich erworben. Viele Möglichkeiten bieten sich hier nicht. Der Gebrauchtmarkt ist praktisch leergefegt. Und ob die neuen Züge pünktlich ausgeliefert werden, ist nach den Erfahrungen der Vergangenheit auch nicht sicher. Es kam dabei immer wieder zu Verzögerungen.
Hohe Kosten für eine verlässliche Bahn
Kein Wunder, dass sich Bahn-Kenner immer häufiger die Frage stellen, wie heute zusätzliche Fahrgäste nach einer Preissenkung überhaupt transportiert werden könnten. Die Züge sind in den bei Reisenden beliebten Zeiten ohnehin schon häufig voll. Für Karl-Friedrich Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn ist der Fahrpreis für die Attraktivität der Schiene auch deshalb eher zweitrangig. „Wir brauchen eine verlässliche Bahn", sagt der Verbraucherschützer, „das bekommen Sie nicht von heute auf morgen gebacken." Weitere Züge müssten bestellt werden. Bis zur Auslieferung dauere es vier bis fünf Jahre. Auch das Planungsrecht, das oft zu langwierigen Klagen gegen Ausbauvorhaben bei der Infrastruktur führe, sei nicht in Ordnung.
Allein schon die Fülle der gleichzeitig zu bewältigenden Aufgaben lässt auf einen immensen Finanzbedarf schließen. Die Finanzierung der Bahn besteht aus einer komplizierten Mischung verschiedener Geldquellen. In diesem Falle handelt es sich um die „Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung" (LUVF), die der Bund bisher alle fünf Jahre mit der Bahn abgeschlossen hat. Diesmal reicht sie über zehn Jahre und umfasst das schlagzeilenträchtige Volumen von 86 Milliarden Euro. In diesem Vertrag werden die Maßstäbe für die Qualität des Schienennetzes festgelegt, etwa der Brückenbauten oder die Verfügbarkeit von Strecken. Einzelne Projekte werden dabei nicht benannt. Es geht um einen guten Zustand des Gesamtnetzes, der von der Bahn sichergestellt werden muss. Wo gebaut wird, entscheidet die Bahn, das Eisenbahnbundesamt kontrolliert.
Die LUVF deckt jedoch nur einen Teil des Finanzbedarfes ab, eben die Instandhaltung der Infrastruktur. Es gibt aber noch den Bedarf an Neubauten, etwa der Ausbau der chronisch überlasteten Knotenbahnhöfe in Frankfurt am Main, Köln oder Hamburg. Es bedarf neuer Hochgeschwindigkeitstrassen zwischen Hannover und Göttingen oder Frankfurt und Mannheim sowie Würzburg und Nürnberg. Auch diese Kosten muss der Bund übernehmen. Damit könnten zwei der größten Schwachpunkte der Bahn gestärkt werden. Einerseits sorgt die Überlastung der Bahnhöfe für viele der ärgerlichen Verspätungen. Andererseits kann die Bahn dem Luftverkehr nur bei Fahrzeiten unter der Marke von vier Stunden Paroli bieten.
Außerdem werden noch bis zu 30 Milliarden Euro für die Digitalisierung des Schienennetzes fällig, die für eine höhere Kapazität des Netzes notwendig ist. Bis zu 30 Prozent mehr Züge auf einem Gleis erhofft sich die Bahn dadurch. In trockenen Tüchern ist die Finanzierung noch nicht. Unter dem Strich kostet die Bahn den Steuerzahler also einen riesigen Betrag. Die positive Botschaft lautet: Der Boden wird sichtbar. Wenn es so läuft wie geplant, wird Deutschland in zehn Jahren über ein modernes, hochwertiges, leistungsfähiges und umweltfreundliches Verkehrsmittel verfügen, das auch in der Fläche verfügbar ist.