Ein großes Problem unserer Gesellschaft ist ein Mangel an Bewegung. Dies verursacht nur allzu oft Probleme und Schmerzen – wie zum Beispiel Bandscheibenvorfälle. Prof. Dr. med. Stefan Landgraeber, Direktor der Klinik für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, sowie der Leitende Oberarzt Prof. Dr. med. Ekkehard Fritsch vom Universitätsklinikum des Saarlandes sprechen über die schmerzhafte Erkrankung.
Herr Prof. Dr. Landgraeber, Herr Prof. Dr. Fritsch, was genau ist ein Bandscheibenvorfall?
Landgraeber: Ein Bandscheibenvorfall ist die Vorwölbung der Bandscheibe. Die Bandscheibe wiederum besteht aus einem harten Ring, ein kollagenartiges Gewebe, und in diesem Faserknorpel ist ein weicheres Gewebe, ein flüssiger Kern. Beim Bandscheibenvorfall bekommt dieser harte Faserknorpelring einen Riss. Dadurch kann das weichere Material im Kern austreten. Das ist dann der eigentliche Bandscheibenvorfall. Dadurch kommen die beiden Wirbelkörper näher aneinander. Es kommt dann darauf an, wo diese Flüssigkeit hinläuft. Kommt sie in die Nähe einer Nervenwurzel, was häufig vorkommt, dann tut diese Nervenwurzel weh und es kommt zu einem Ausstrahlungsschmerz. Auch die Rissbildung des Faserknorpelrings tut weh. Das heißt, oft hat der Patient schon Schmerzen, obwohl es zu dem eigentlichen Vorfall noch nicht gekommen ist.
Was sind die Symptome?
Landgraeber: Der typische Bandscheibenvorfall ist eine Kombination aus Rückenschmerz und einem ausstrahlenden Schmerz in das von der Nervenwurzel versorgte Areal. Das reicht typischerweise bis in den Fuß. Zusätzlich kann das, und dann wird es gefährlich, einhergehen mit Lähmungen. Aber nicht jeder Bandscheibenvorfall ist symptomatisch. Wenn Sie eine gewisse Population ins MRT legen würden, dann hätte eine nicht unerhebliche Anzahl wahrscheinlich Bandscheibenvorfälle, beziehungsweise zumindest eine Bandscheibenvorwölbung, ohne dass sie Beschwerden haben.
Was sind die Ursachen und Risikofaktoren für einen Bandscheibenvorfall?
Fritsch: Die Bandscheibe altert bei jedem Patienten vorzeitig, weil eine Bandscheibe keine Blutgefäße aufweist. Sie wird normalerweise ernährt durch rhythmisches Zusammenpressen und Auseinanderziehen, wie das bei dem Gangbild eines Tieres der Fall ist. Dieses rhythmische Auseinanderziehen und Zusammenpressen findet aber beim Menschen nicht mehr statt, weil wir ja entweder liegen, sitzen oder gehen. Dadurch erleidet die Bandscheibe eine Mangelernährung, die Bandscheibenzellen verhungern sozusagen. Die mechanischen Eigenschaften dieses äußeren Faserringes verschlechtern sich, und er kann reißen. Das ist ein Vorgang, der jeden Menschen trifft, da kann man nichts dagegen tun. Selbstverständlich gibt es negative Einflussfaktoren wie zum Beispiel das Gewicht. Wenn eine Bandscheibe bei Übergewicht zu viel Gewicht aushalten muss, dann kann dieser Faserring natürlich leichter reißen. Aber auch viel schweres Heben kann dazu beitragen, dass dieser natürliche Verschleiß schneller stattfindet.
Was ist die Aufgabe der Bandscheiben?
Fritsch: Die Bandscheiben sorgen dafür, dass sich die Wirbelsäule bewegen kann. Ohne die Bandscheibe, die zwischen zwei Wirbeln ist, in Verbund mit den kleinen Wirbelgelenken, könnten wir uns nicht bewegen. Das ist das eine und das andere: Die Bandscheibe hat eine Pufferwirkung, sodass, wenn wir zum Beispiel hart auftreten oder springen, die Stoßenergie nicht ungebremst zum Beispiel in den Kopf ausstrahlen kann und wir nicht bei jedem Schritt eine Gehirnerschütterung erleiden. Sie gibt uns also Stabilität, Beweglichkeit und ist ein wichtiger Puffer, den wir zum Laufen, Gehen oder Springen brauchen.
Warum ist in etwa 90 Prozent der Fälle die Lendenwirbelsäule betroffen?
Fritsch: Das liegt daran, dass die letzten beiden Lendenbandscheiben, also die Bandscheibe zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel und dem fünften Lendenwirbel und dem Kreuzbein, die meiste Last aushalten müssen. Im Prinzip lastet das Gewicht des gesamten Oberkörpers auf diesen beiden Bandscheiben. Die anderen Bandscheiben sind weniger belastet. Die Bandscheiben im Bereich der Brustwirbelsäule werden entlastet, weil sie durch den Brustkorb und die Rippen mit dem Brustbein verbunden sind.
Landgraeber: Die Halswirbelsäule ist natürlich auch relativ häufig betroffen, das darf man nicht vergessen. Die Halswirbelsäule hat eine sehr hohe Beweglichkeit.
Wie wird die Diagnose erstellt?
Landgraeber: Typischerweise befragt man den Patienten erst einmal nach seinen Symptomen. Häufig sind diese relativ klassisch, der bereits genannte ausstrahlende Schmerz. Man untersucht die Nervenwurzeln, Dermatome – ein Dermatom ist ein Hautareal, das von einer Nervenwurzel versorgt wird – im Hinblick auf Schmerz und Taubheit. Jede Nervenwurzel ist auch für gewisse Muskeln zuständig. Ganz typisch ist, dass die Fußhebung und -senkung abgeschwächt ist, wenn die Bandscheibe zwischen dem vierten und fünften oder dem fünften Lendenwirbel und dem Kreuzband betroffen ist. Der nächste Schritt ist ein Röntgenbild, um andere Ursachen auszuschließen. Manchmal sieht man dann schon indirekt eine Verschmälerung des Bandscheibenfaches, also des Raumes zwischen zwei Wirbelkörpern. Aber bildgebend beweisend ist erst das MRT oder eventuell das CT. Die Indikationsstellung zu dieser Schichtbildgebung muss aber individuell getroffen werden. Wichtig zu wissen ist, dass nicht jede Vorwölbung einer Bandscheibe, die man eventuell im MRT findet auch zwangsläufig eine Konsequenz hat. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist immer auch das Vorhandensein der dazu passenden Symptomatik.
Wie behandelt man einen Bandscheibenvorfall, falls es denn einer ist?
Landgraeber: Das hängt letztendlich von mehreren Kriterien ab. Wenn eine relevante Lähmung vorliegt, zum Beispiel eine vollständige Fußhebeschwäche oder auch Stuhlgang und Wasserlassen betroffen sind, sind das wirklich dringliche bis Notfallindikationen. Dann muss relativ zügig operiert werden. Wenn wir aber keine Lähmung haben und ein reines Schmerzsyndrom vorliegt, kann konservativ, ohne Operation, behandelt werden. Es gibt diverse Möglichkeiten. Erst einmal eine sogenannte Stufenbettlagerung. Das bedeutet, dass man die Beine stufenartig hochlagert, sodass die Wirbelsäule maximal entlastet wird. Man wird dann entsprechende Schmerzmedikationen geben. Außerdem kann man auch die Nervenwurzel mit einem Lokalanästhetikum, das man auch mit Kortison ergänzen kann, gezielt anspritzen.
Wie verläuft die operative Behandlung, falls diese erforderlich ist?
Fritsch: Die operative Behandlung heutzutage ist ein Verfahren, das wir die Mikronukleotomie nennen. Da wir heute ganz genau wissen, wo der Bandscheibenvorfall gelegen ist, können wir genau an dieser Stelle operieren. Das heißt, es wird im Rückenbereich ein kleiner, etwa drei Zentimeter langer Schnitt gemacht und dann ein Arbeitstrichter in den Rücken eingeführt. Durch diesen Trichter kann man mit dem Mikroskop auf die Wirbelsäule schauen und mit speziellen Instrumenten den Bandscheibenvorfall entfernen. Es gibt ein noch minimalinvasiveres endoskopisches Verfahren, wie man sie auch bei der Untersuchung und Behandlung von Kniegelenksproblemen einsetzt. In den allermeisten Fällen führt das zu einer dauerhaften Beschwerdefreiheit oder -armut. Sollten nochmals Probleme auftreten, bei nur etwa fünf Prozent der Patienten, haben wir natürlich auch noch andere Behandlungsmöglichkeiten. Es gibt zum Beispiel heute künstliche Bandscheiben, die man einsetzen kann oder auch eine Fusion der Wirbelsäule im betroffenen Bereich. Das sind aber Behandlungsverfahren, die in komplizierteren Fällen zur Anwendung kommen.
Aber die operative Behandlung ist ja vermutlich eher selten. Oft führt ja bereits die konservative Behandlung zum Erfolg, oder?
Fritsch: Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass von 100 Patienten mit Schmerzen verursachenden Bandscheibenvorfällen nur 30 Prozent operiert werden müssen. 70 Prozent können unter einer geeigneten Therapie deutlich besser werden. Allerdings muss man diese Patienten intensiv konservativ behandeln mit einer notwendigen Therapiedichte und auch -frequenz. Da gibt es zum Beispiel neuere Ansätze, dass man bis zu sechs stationäre Behandlungen über 14 Tage macht, in denen mit hoher Therapiedichte verschiedenste Behandlungsmethoden gebündelt werden, wie sie auch schon Prof. Landgraeber angesprochen hat: periradikuläre Behandlungen, epidurale Injektionen oder sakrale Umflutungen. Diese haben sich in den letzten Jahren als sehr erfolgreich herausgestellt. In Verbindung mit Krankengymnastik, Elektrotherapie, muskelentspannenden Medikamenten und Schmerzmedikamenten kann man intensiv behandeln. Diese Behandlungen werden auch vermehrt in Akutkrankenhäusern angeboten, wir machen das zum Beispiel auch. Wenn man den Patienten also intensiv behandelt, über eine längere Zeit, ist das oft erfolgreich. Wenn aber, wie schon dargestellt, schwere Lähmungen auftreten, die nicht weggehen oder schlimmstenfalls eine Blasenlähmung eintritt, kann nur eine Operation eine Rückbildung dieser Lähmungen herbeiführen.
Wenn man keinen Bandscheibenvorfall bekommen möchte, gibt es doch bestimmt das ein oder andere, was man tun kann.
Fritsch: Vorbeugend kann man eigentlich nur raten, dass man sportlich aktiv ist und dass man normalgewichtig ist. Andere Möglichkeiten zur Vorbeugung gibt es nicht.