Gerade einmal fünf Medaillen konnte der DLV bei der WM 2017 erringen. Wenn Ende September in Doha die diesjährige Weltmeisterschaft beginnt, möchten die deutschen Leichtathleten diese Bilanz deutlich verbessern.
Schon Anfang Juli 2019 hatte der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) mit den Gehern die ersten Teilnehmer für die Weltmeisterschaften nominiert, die vom 27. September bis zum 6. Oktober in der katarischen Hauptstadt Doha stattfinden werden. Für alle anderen Disziplinen des DLV wurde der 6. September als finaler WM-Meldetermin festgesetzt. Bis dahin haben all jene Sportler, die die geforderte Norm noch nicht erfüllt haben, die Möglichkeit, durch entsprechende Leistungen in letzter Minute doch noch auf den WM-Zug aufzuspringen. Bei einem der DLV-Aushängeschilder, dem früheren Doppel-Weltmeister im Kugelstoßen David Storl, steht in den Sternen, ob er sich den Qualifikationsstress noch antun möchte. Denn nach für ihn mehr als enttäuschenden 19,77 Meter bei den jüngsten nationalen Titelkämpfen Anfang August im Berliner Olympiastadion scheint der von einer Rückenverletzung noch nicht gänzlich genesene Vorzeigeathlet eher einen WM-Startverzicht zu erwägen. Weil es mehr als unwahrscheinlich sein dürfte, in den Tagen bis zur WM leistungsmäßig die fehlenden zwei Meter an Weite aufzuholen, um in Doha auch nur in Medaillennähe kommen zu können. Storl hielt es zwar theoretisch für möglich, die Norm erfüllen zu können, doch „mit Ach und Krach 20,70 Meter stoßen – da brauchst du eigentlich nicht zur WM zu fahren."
Gewisse Kopfschmerzen dürfte dem DLV rund um Präsident Jürgen Kessing und dem neuen Chef-Bundestrainer Alexander Stolpe auch die frühere Kugelstoß-Doppel-Europameisterin und Weltmeisterin 2015, Christina Schwanitz, bereitet haben. Denn mit der jüngsten Berliner Weite von gerade mal 18,84 Meter konnte sie zwar ihren siebten nationalen Titel erringen; in Doha dürfte damit aber kaum einen Blumentopf zu gewinnen sein. Doch da Schwanitz nach ihrer Babypause schon nachweisen konnte, dass sie sich auch 2019 unverändert mit den Besten der Welt messen kann, zählt die gebürtige Dresdnerin fraglos zu den realistischen Medaillenkandidaten des DLV im arabischen Wüstenstaat. Damit könnte wenigstens bei den Frauen die langjährige deutsche Domäne, das Kugelstoßen, behauptet werden. Was in Sachen Diskus derzeit noch völlig ungewiss ist. Wer bei den Frauen an den Start gehen wird, ist völlig offen, da fünf Sportler die Norm geknackt haben. Aber es dürfte wohl kein Weg an Nadine Müller und der neuen deutschen Meisterin vorbeiführen: Kristin Pudenz. Das größte Rätsel für den DLV, ja sogar eine veritable Wundertüte, ist allerdings fraglos der Diskus-Olympiasieger Christoph Harting. Er hat zwar die geforderte WM-Norm von 65 Metern geschafft, aber bei den jüngsten Titelkämpfen in Berlin glänzte er durch Unlust und drei Fehlversuche.
Christina Schwanitz auf Formsuche
Neben Schwanitz dürften vor allem die deutschen Mehrkämpfer, die deutschen Speerwerfer rund um Titelverteidiger Johannes Vetter, die Speerwerferin und amtierende Europameisterin Christin Hussong von der LAZ Zweibrücken und vor allem die Weitsprung-Weltjahresbeste Malaika Mihambo die größten Chancen auf Edelmetall haben. Bei den Zehnkämpfern haben Kai Kazmirek und Niklas Kaul jüngst den Nachweis erbracht, dass sie bei der Medaillenvergabe ein ernstes Wörtchen mitreden möchten, beim Siebenkampf der Frauen ruhen die deutschen Hoffnungen auf Carolin Schäfer. Für eine positive Überraschung könnte womöglich Hussongs Vereinskamerad Raphael Holzdeppe gut sein. Der frühere Stabhochsprung-Weltmeister gewann in Berlin mit übersprungenen 5,76 Meter seinen zweiten nationalen Titel. Vielleicht kann er mit seinem Pokerface den haushohen Favoriten und regelmäßigen Sechs-Meter-Überflieger, den Franzosen Renauld Lavillenie, etwas aus dem Konzept bringen. Der amtierende Hochsprung-Europameister Mateusz Przybylko muss bis zur WM noch einiges draufpacken, denn mit bescheidenen 2,22 Metern wie beim jüngsten nationalen Triumph in Berlin wird er in Doha keine Rolle spielen können. „Ich habe Höhen jenseits von 2,30 Meter drin", so Przybylko, „bringe sie aber nicht." Für Dreisprung-As Max Heß dürfte die WM noch etwas zu früh kommen. Nach überwundenem Bandscheibenvorfall reichte es in Berlin zwar zum Titel, aber 16,50 Meter sind für höhere Ansprüche einfach zu wenig.
Ganz klare Gold-Favoriten sind die deutschen Speerwerfer. Wobei Johannes Vetter in Berlin verletzungsbedingt nur zuschauen konnte, wie Andreas Hofmann den nationalen Titel mit starken 87,07 Meter verteidigen und Olympiasieger Thomas Röhler mit relativ bescheidenen 82,70 Meter lediglich den dritten Platz belegen konnte. Mit ihrem Riesensatz auf 7,16 Metern richtete Malaika Mihambo von der LG Kurpfalz eine klare Kampfansage an die internationale Konkurrenz. Mit dieser Weite stieg sie zur drittbesten deutschen Springerin aller Zeiten auf und katapultierte sich auf den ersten Platz der aktuellen Weltbestenliste. Mihambo: „Es ist ein cooles Gefühl, die Nummer eins der Welt zu sein. Ich weiß, dass ich gute Chancen für die Weltmeisterschaft habe." Sie könnte nach Heide Rosendahl und Heike Drechsler künftig sogar die dritte deutsche Athletin werden, die nach Medaillen im Sprint über 100 Meter und im Weitsprung greifen könnte. Die WM-Norm über die kurze Sprintstrecke hat sie 2019 mehrfach geschafft, obwohl sie sich im Training bislang hauptsächlich auf das Springen konzentriert hatte. Eine Nominierung für den Einzelstart über 100 Meter würde der WM-Zeitplan zwar erlauben, weil der Weitsprung-Wettbewerb erst eine Woche später ansteht. Aber wahrscheinlich wird sich der DLV für drei andere Sprinterinnen entscheiden. In der 4x100-Meter-Staffel müsste Mihambo eigentlich gesetzt sein, allerdings findet das Finale am Tag der Weitsprung-Qualifikation und am Vortag der Weitsprung-Entscheidung statt.
Przybylko muss draufpacken
Während bei den deutschen Männern in sämtlichen Lauf-Disziplinen nach wie vor Flaute herrscht und das schwache Abschneiden des deutschen Rekordhalters Julian Reus bei den Berliner Meisterschaften wenig Hoffnung auf eine WM-Medaillenchance für die 4x100-Meter-Staffel wecken konnte, sieht es bei den Damen wesentlich besser aus. Eine spannende Außenseiterrolle ist Cindy Roleder über 100 Meter Hürden zuzutrauen: Ihre Dauerrivalin Pamela Dutkiewicz wird in Doha verletzungsbedingt nicht an den Start gehen können. Über die 100-Meter-Sprintstrecke haben gleich vier Ladys die WM-Norm erfüllen können: Die aktuelle deutsche Meisterin Tatjana Pinto, die Zweitplatzierte Gina Lückenkemper, Laura Müller, die aber aufgrund gesundheitlicher Probleme auf einen WM-Start verzichtet, und Malaika Mihambo. Um allerdings in Doha beim Einzelstart um die Medaillen mitkämpfen zu können, müsste zumindest eine der drei deutschen Starterinnen eine Zeit unter elf Sekunden auf die Bahn zaubern können. Was in diesem Jahre noch keiner deutschen Sprinterin gelang. Von daher gibt es die Chance auf Edelmetall eigentlich nur in der 4x100-Meter-Staffel. Die ARD hatte Anfang des Jahres die zweimalige Europameisterin Gesa Felicitas Krause als „große Medaillen-Hoffnung" auf ihrer Paradestrecke 3000 Meter Hindernis präsentiert. Inzwischen dürfte die Euphorie etwas abgeebbt sein, denn die sympathische junge Frau belegt mit ihrer Saisonbestleistung gerade mal den elften Platz im aktuellen Zeitenranking. Für die WM müsste sie im Höhentrainingslager noch eine kräftige Schippe drauflegen, um sich gegen die Weltelite tatsächlich behaupten zu können.
Beim aktuellen Shootingstar der deutschen Leichtathletik, der 22-jährigen Konstanze Klosterhalfen, sollten die WM-Siegchancen ebenfalls nicht zu hoch geschraubt werden. Die als Jahrhunderttalent gehandelte Sportlerin hatte die deutschen Rekorde über 3000 und 5000 Meter geradezu pulverisiert. Gleiches ist ihr über die 1500 Meter zuzutrauen. Im Herbst 2018 wechselte sie zu dem von Nike mit unvorstellbaren finanziellen und personellen Mitteln ausstaffierten Oregon Project nahe Portland, unter Leitung des mit Doping-Vorwürfen konfrontierten Alberto Salazar.
Wirbel um Klosterhalfen
Auch wenn die Konkurrenz aus Afrika und den USA als megastark einzuschätzen ist, ist es schon beeindruckend, dass Klosterhalfen dieses Jahr die deutschen Rekorde über 5000 Meter um 15 Sekunden (ihre persönliche Bestleistung sogar um 25 Sekunden) und über 3000 Meter um fast zehn Sekunden verbessern konnte. Für Doha hat sich Klosterhalfen bislang noch nicht auf eine bestimmte Strecke festgelegt, vermutlich wird sie durch ihre Disziplinauswahl versuchen, den potenziell stärksten Gegnerinnen aus dem Weg zu gehen. Ein Doppelstart ist nicht möglich, da die Final-Läufe über 1500 und 5000 Meter am vorletzten Wettkampftag unmittelbar nacheinander über die Bühne gehen werden.