Theresa Mays Brexit-Vertrag aufschnüren, um die Backstop-Regelung für die irische Grenze zu verhindern: Das wird wohl auch Premier Boris Johnson nicht gelingen. Dass viele Engländer sogar gänzlich ungeregelt rauswollen aus der EU, liegt mit an einer langjährigen Medienkampagne.
Das ganze Vereinigte Königreich ringt um seine Haltung gegenüber der EU? Mitnichten: Der Brexit ist ein englisches nationalistisches Projekt. Nur acht Prozent der Schotten und sieben Prozent der Waliser finden, dass die EU großen störenden Einfluss auf ihr Leben habe. So ähnlich ist das Ergebnis auch in den anderen EU-Ländern. Aber in England waren es 31 Prozent. Das ist die Folge eines langen Propagandakriegs, der besonders vom Medienzaren Rupert Murdoch geführt wird. Vor Jahren antwortete der auf die Frage, warum er die EU so vehement ablehne, dass die Londoner Regierung vor ihm kusche – in Brüssel hingegen werde er ignoriert. Später bestritt er diese Äußerung, aber es gibt Zeugen dafür. Murdochs englische Blätter waren nicht zimperlich beim Erfinden von Geschichten, die belegen sollen, dass sich Brüssel ins Leben eines jeden Engländers und einer jeden Engländerin einmische.
Eine praktische Lösung ist nicht in Sicht
Die Journalisten überboten sich gegenseitig beim Ausdenken der absurdesten Märchen – von der angeblichen Standardisierung von Kondomgrößen („zu klein für Briten") über die Helmpflicht für Hochseilartisten und die Einschmelzung von Leichen, um sie in der Kanalisation zu entsorgen, bis hin zur Haarnetzpflicht für Fischer und Ruhepausen zur Stressvermeidung für Muscheln und Austern bei Transporten von mehr als 50 Kilometern. Es waren nicht nur die Boulevardblätter, auch die früher einmal angesehene „Times" mischte kräftig mit. Solche Märchen bleiben im Gedächtnis haften, und sie waren einer der Gründe für die Brexit-Mehrheit.
Doch eine Mitschuld am jetzigen Dilemma weisen die Murdoch-Medien ebenso von sich wie die Brexit-Befürworter bei den Tories und in der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP), deren zehn Abgeordnete die Tory-Regierung stützen. Stattdessen haben sie in der irischen Regierung den Sündenbock ausgemacht. In der BBC wurde neulich ein hochrangiger Tory mit den Worten zitiert, dass man es einfach nicht zulassen dürfe, von den Iren so behandelt zu werden. Die sollten gefälligst wissen, wo sie hingehören.
Hintergrund ist der Streit um den sogenannten Backstop. Aber der Auffangplan für die irische Grenze ist nicht in Dublin ausgeheckt worden: Vor gut zwei Jahren sagte May im Lancaster House in London, es habe für sie „Priorität, so schnell wie möglich eine praktische Lösung zu finden", um die Rückkehr zu einer Grenze wie in der Vergangenheit zu verhindern. Im September 2017 wiederholte sie das in Florenz: „Wir und die EU haben ausdrücklich erklärt, dass wir keine physische Infrastruktur an der Grenze akzeptieren werden. Wir schulden es den Menschen in Nordirland, ja allen Menschen auf der irischen Insel, dass wir dieses Versprechen umsetzen."
Also: keine Schranken und keine Grenzanlagen. Seitdem hat die britische Regierung keinen einzigen Vorschlag vorgelegt, wie man die Zollunion verlassen und gleichzeitig eine harte Grenze in Irland vermeiden könne. Boris Johnson, Mays Nachfolger, hatte erklärt, man könne das genauso handhaben wie die City-Maut in London; dort sorgen Überwachungskameras für die Einhaltung der Regeln.
Dass das ähnlich an der irischen Grenze funktionieren sollte – daran glauben nicht mal Johnsons Mitstreiter. Der Premier argumentiert: Gäbe es eine technologische Lösung für die Überwachung der rund 300 Grenzübergänge in Irland, müsste niemand Angst vor dem Backstop haben, denn er würde nie zur Anwendung kommen. Er sollte lediglich eine Versicherungspolice sein, die niemals eingelöst werden müsste.
Widersprüchliche Zusagen aus Irland
Als Johnson im Unterhaus gebeten wurde, seine Vorstellung einer technologischen Lösung vorzulegen, blieb er die Antwort schuldig. Und nicht nur, dass die Regierung keinen praktikablen Vorschlag machen konnte – sie hat es nicht mal versucht. Karen Wheeler, die Chefin des Gremiums, das sich mit den britischen Grenzen nach dem Brexit befassen sollte, sagte zur irischen Frage, dass das gar nicht in ihren Aufgabenbereich falle. Mays Brexit-Strategie, wenn man sie als solche bezeichnen möchte, war von Anfang an verkorkst. Sie hat den Brexit, gegen den sie vor dem Referendum 2016 noch wortreich argumentiert hatte, in leuchtenden Farben gemalt, als sie dann Premierministerin wurde. Sie hat in Verkennung der Lage Neuwahlen ausgerufen, um ihre Verhandlungsposition zu stärken – und wurde stattdessen zur „lahmen Ente". Und sie aktivierte im März 2017 ohne Not den Artikel 50, der die Zweijahresfrist startete und das Austrittsdatum auf den 29. März diesen Jahres festlegte – obwohl sie damals keinen erfolgversprechenden Plan hatte. Und ihr Nachfolger Johnson hat ihn ebenfalls nicht.
Die britische Regierung wusste seit zweieinhalb Jahren, dass die Grenzfrage auf der Nachbarinsel eine der größten Hürden für einen einvernehmlichen Ausstieg aus der EU ist. Doch sie akzeptierte einerseits den Backstop, falls keine andere Lösung gefunden würde – also die Zollunion des Vereinigten Königreichs mit der EU, bei der Nordirland im EU-Binnenmarkt bleiben würde. Aber gleichzeitig versprach sie dem wichtigen Bündnispartner DUP, dass es keine Sonderregelung für Nordirland geben werde.
Damit steckt das Verfahren in einer Sackgasse. Die beiden Zusagen schließen sich gegenseitig aus. Ein Entkommen aus der verfahrenen Situation ist nicht in Sicht.