Leonardo da Vinci hat vor 500 Jahren seine letzten Lebensjahre an der Loire verbracht. Heute kann man hier auf seinen Spuren wandeln und im Schloss Amboise auch kulinarisch ins 16. Jahrhundert reisen sowie die Genüsse der damaligen Zeit erschmecken.
Auf einer langen Festtafel reihen sich gegrillte Geflügel von unüblicher Größe im Kerzenschein imposanter Kandelaber. Im Hintergrund thront ein ausgestopfter Schwan. Wie auf Altären blitzt das üppig zusammengestapelte Tafelsilber in den Ecken eines großen Raums aus hellem Tuffstein. Auch die lange Tafel mit gegrilltem Vogelvieh wäre ganz nach dem Geschmack von François I. gewesen. Der erste König der französischen Renaissance liebte es, große Feste als Zeichen seiner Macht zu inszenieren.
Der von hohen Decken und Steinsäulen umsäumte Raum – der Mundschenksaal im Château Royal d’Amboise – ist leer und lässt doch die Dimension der Festakte erahnen. Vor dem Auge des Betrachters spielt sich das Szenario virtuell auf einem kleinen Screen ab. Der „Histopad" (Histovery), ein 3D-Simulationsprogramm, ist im Eintritt der Schlossbesichtigung inklusive und auch in den nahe gelegenen Schlössern Chambord und Blois im Einsatz. Die realitätsnahe HD-„Raumausmalung" macht das royale Inventar lebendig und lässt Besucher des Schlossjuwels im Tal der Könige in die Zeit um 1518 eintauchen.
Seit in der Region Centre Val de Loire der 500. Todestag Leonardo da Vincis zelebriert wird, geht es im Schloss Amboise zu wie im Taubenschlag. Im 400 Meter entfernten Schlösschen Clos Lucé hat das Universalgenie seine letzten Lebensjahre verbracht. König François stellte es ihm – nicht uneigennützig – als Wohnsitz zur Verfügung. Der ehemalige Landsitz von Cloux wurde 1471 auf Fundamenten aus dem 12. Jahrhundert ausgebaut.
Eingebettet in das Grün einer sanft abfallenden Talebene, durch das ein Flüsschen plätschert, ist es heute ein musealer Begehungsort, in dem man durch Leonardos letzte Schaffensräume und Gemächer wandelt, um seinem Geist nachzuspüren. An die 40 vom Meister erfundene interaktive Maschinen sind auf den Landschaftspfaden des Schlossparks zu entdecken. Ein unterirdischer Gang verbindet die beiden Schlösser. So konnte der König seinen geistigen Inspirationsvater wann immer er wollte in seiner Nähe wissen.
Die alten Gänge dienen heute als Weinlager
Aber zurück zu den großen Vögeln – im kulinarischen Sinne: Schwäne oder Fasane galten damals als delikate Himmelsboten und landeten auf den Holzfeuern der royalen Gäste, bevor François seine Vorliebe für Wachteln und Puten (Dinde) entdeckte. Fleisch und Holz standen für Waldbesitz und galten als Zeichen für Wohlstand. Alles, was niedrig am Boden und in der Erde wuchs, war dem Volk zum Verzehr vorbehalten. Das war zwar arm, aber gesünder, denn die hohen Herrschaften hatten den Zucker für sich entdeckt, den die Seefahrer als Handelsware mit ins Land gebracht hatten. Am Hof musste alles frisch zubereitet und sofort serviert werden, während das arme Volk die Speisen mit langen Gar- und Kochvorgängen mehrfach aufköchelte (Bouillon/Pot au Feu). Später wurde geräuchert, gepökelt oder in Essig mariniert. Fast jedes Loire-typische noch so einfache Haus aus Tuffstein war von unterirdischen Gängen durchzogen. Die Keller, die bis zu 20 Meter unter der Erde auch als konservierende Eiskeller genutzt wurden, dienen heute als Weinlager und attraktive Degustationsorte.
König François ging es um Inszenierung. Er hatte Leonardo da Vinci nicht nur als seinen ersten Maler, Architekten und Ingenieur 1516 an die Loire gerufen. Er erteilte ihm ebenso den Auftrag, seinem Einfallsreichtum freien Lauf zu lassen. Lange bestanden die Tafeln nur aus unspektakulären, langen Brettern mit flachen Zinktellern. Auch Servietten und Tuch kamen später erst in Mode. Während sich die Kultur auf dem Tisch (Art de Table) nur langsam verfeinerte, wurde das pokalartige Tafelgold regelrecht aufgebahrt. Die Gäste sollten mit raffinierten Spielen und pompösem Dekor überrascht und beeindruckt werden.
Da Vinci kreierte artifizielle Regenbögen- und Sternenhimmel, erfand mechanische Löwenköpfe und andere Schelmereien. Er selbst soll in maßvoller Art gerne mit seiner Köchin Mathurine in der Küche gespeist haben. „Willst du gesund bleiben, esse nur,, wenn du Appetit hast", soll er gesagt haben. Obwohl er den mechanischen Fleischspieß quasi erfunden hat, soll er sich vorwiegend vegetarisch ernährt haben. Diese Lebensweise hat ihm wohl sein für damalige Verhältnisse hohes Alter von 67 Jahren geschenkt.
Historisches Refugium im hinteren Teil des heutigen Schlossparks
Der Küchensaal mit großem Kamin und Caquetoire (Lehn-Plauderstuhl) spricht von Gemütlichkeit. Für doch etwas Fleischesgenuss sprechen die Ringe, die sich unter den Hauptträgern befinden. Hier wurde Wild mit heißem Wein beträufelt und an Spießen gebraten. In kleinen Zinnkrügen serviert, war das Gemisch aus Wein und Wasser das beliebteste Getränk am Hof. Der mit Honig, Ingwer, Zimt, Nelken, Orangenblüten, Salbei, Majoran und Macis verfeinerte „Hypocras" war der eine, der nur kurz auf der Traubenschale vergorene „Clairet" der andere arrangierte Wein.
Die beiden halbtrocken-lieblichen Tropfen kann man heute noch bei Maître Sieur Sausin in der Auberge du Prieuré genießen. In einem ehemaligen Herrenhaus im hinteren Teil des Schlossparks leitet er gemeinsam mit seiner Frau Anne-Lise und anderen Familienmitgliedern ein historisches Refugium. Der Berater für die historische Küche des 16. Jahrhunderts kennt sich aus: Wenn er nicht gerade eine Estragon-Weißwein-Fasanenpastete für ein mediales Regierungs-Menü zubereitet, bekocht er die Schlossbesucher zeitkaleidoskopisch: „Als Kind von Schauspieler-Eltern, die mit Sprache, Kostüm und Gestus die Epoche nachgespielt haben, bemerkte ich bereits mit 14, dass auf den Tellern nichts Epochales stattfand. Diese Sprache der Renaissance wollte ich erschmecken lassen", sagt der Maître Queux.
Mit Historikern der Universität Poitier und ersten überlieferten Rezepturen hat er seine Gerichte kreiert: Im grünen Flan steckt stilecht ein Kräuterbouquet aus Fenchel, Kerbel und Melisse, die kalte Spargelsuppe ziert ein Kakao-Rand. Das Zitronenhuhn wird mit Safran-Aubergine serviert. Mit seiner sonoren Stimme und dem südländischen Charisma, das seine spanischen Wurzeln verrät, ist der gebürtige Pariser kulinarischer Akteur im eigenen Theater. „Vieles in diese Zeit wurde erst schrittweise vom Religiösen zum leiblichen Wohl der hochgestellten Gesellschaft eingeführt", erklärt er. Man aß lange mit Händen, da die Gabel an einen diabolischen Dreizack erinnerte. Später, zu Zeiten Caterina de Medici, einigte man sich auf Zweizack und Löffel. Nur Mundschenke und Vorkoster durften Getränke servieren und Speisen in mundgerechte Stücke schneiden. Essen oder Messerklinge hätte vergiftet sein können, und das Kauen schadete der beherrschten Mimik.
Neuentdeckung Zucker wurde sogleich vielseitig verwendet
Die kulinarischen Neuentdeckungen der Seefahrer wurden über die Loire von Le Meung bis zum Hof nach Versailles gebracht. „Das Wertvollste waren Gewürze (les épices=espèce=Geld) wie Pfeffer, Piment oder Kümmel, Vanille aus Indien, Zimt, Nelke, Kardamom, Safran oder Ingwer, die bis zu drei Jahren auf See waren. Neben Aromen wurde ihnen auch alchemistische Heilkraft zugesprochen", erzählt Sausin, der ihnen mit zwei Hand großen Mörsern die Aromen entlockt. Aufbewahrt wurden sie in einem „Nef" – einer segelbootförmigen Goldschatulle, in dem Gegengift und Besteck (couvert=versteckt) aufbewahrt wurden. Man orientierte sich an Italien und genoss die von dort importierten Auberginen, Spargel und Artischocken, Zitrusfrüchte, Ananas oder Melonen. Die epochale Neuentdeckung Zucker fand sich neben Kompott in Dragees auch gebacken in Fruchtpasten, Brandteiggebäck und dünn gerollten Waffeln. Durch Kandieren wurden die Früchte haltbar gemacht und zu Kunstwerken geformt. Beeindruckende Pyramiden aus „Fruits Confit" sind im Schloss Amboise zu besichtigen. Bei Sausin finden sich die gezuckerten Früchtchen in der in Bitterorange gekochten Vanillebirne mit gepfeffertem Erdbeersüppchen oder einem Melonen-Soufflé mit Koriander und Kirsch-Granité. Obenauf thront gerne ein Keks in französischer Lilie-Form. Der in einer Tourte (Teigpastete) versteckte Ziegenkäse Sainte Maure de Touraine vollendet das historische Mahl.
Der Gastsaal in seiner Mischung aus festlichem Rittersaal und gemütlicher Volkstafel funktioniert gut als Zeitmaschine, in der zwischen schweren Holztischen und Familienwappen in Originalkleidung serviert wird. „Wir sind disziplinierte Bonvivants, vermitteln und beleben die guten Dinge dieser Epoche wieder und bewahren deren Schönheit", sagt Anne-Lise, die ihrem Mann seit 15 Jahren beiseite steht. Eine skurrile Jeanne D’Arc ist auch zugegen. Die zeitlose und sehr französische Schutzpatronin beobachtet, wie die Sausins ihre Gäste renaissanceküchen-theatralisch in eine andere Zeit entführen und – ohne Histopad – den Renaissance-Geschmack ins Jetzt transportieren.