Für den Bund gilt es schon seit Jahren, ab 2020 sind auch die Bundesländer dran: Dann dürfen sie keine Schulden mehr machen. Für manche wird das hart. Aber soll man die Grundgesetz-Regel deshalb lockern oder gar abschaffen? Es gibt auch gute Gründe, weiter auf die Bremse zu treten.
So mancher baut dieser Tage ein Haus, weil die Zinsen für den Kredit so unglaublich niedrig sind. Nicht immer dürfte das die richtige Entscheidung sein, aber das „billige Geld" ist ein scheinbar unschlagbares Argument. Man wird das Haus schon brauchen können.
Wenn das Geld billig ist, erscheinen Schulden in etwas anderem Licht. Einige Ökonomen haben nun erkannt, dass das ja auch für den Staat gilt – für ihn vielleicht sogar verschärft: Die Zinsen auf seine Kredite, also die Staatsanleihen, sind derzeit durchweg negativ; das heißt, er muss in zwei, in zehn oder in 30 Jahren sogar weniger zurückzahlen als er heute bekommt.
Es gibt ja auch so viel zu tun. Viele Straßen und Brücken müssen renoviert werden, Schulen brauchen Geld, dann soll das schnelle Internet in die Dörfer kommen, und nicht zuletzt soll die Bundeswehr neues Gerät erhalten. Das kostet viele Milliarden über viele Jahre.
Dass nun ausgerechnet der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, die Debatte um die Zukunft der Staatsfinanzen und die Schuldenbremse losgetreten hat, hat viele überrascht. Zählte doch das arbeitgebernahe IW bislang immer zu denen, die auf solide Staatsfinanzen gepocht hatten. „Die Schuldenbremse entbehrt heute einer ökonomischen Grundlage", sagt Hüther nun. Mit dem günstigen Zinsumfeld hätten sich die Bedingungen für die öffentliche Verschuldung seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 grundlegend geändert.
Die Schuldenbremse – sie ist eigentlich der ganze Stolz der deutschen Haushaltspolitiker von Union über SPD und Liberalen bis zu den Grünen. Einzig die Linke konnte sich nie recht mit ihr abfinden. Die Schuldenbremse ist eine Regel, die 2011 ins Grundgesetz kam; sie schreibt vor, dass Bundes- und Länderfinanzminister keine Defizite machen dürfen – grundsätzlich. Tatsächlich darf der Bund immerhin mit 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts leicht ins Minus rutschen, was derzeit etwa zehn Milliarden Euro jährlich entspricht. Außerdem werden sinkende Einnahmen und steigende Ausgaben wegen schlechter Konjunktur dabei herausgerechnet – als eine Art Puffer. Bei Naturkatastrophen oder schweren Finanzkrisen darf ohnehin von der Regel abgewichen werden.
Überschüsse dank Minus-Zinsen
Beschlossen wurde die Schuldenbremse 2009, in der schweren Finanzkrise, als man allgemein glaubte, zu viele Schulden hätten die Krise verursacht. Zudem wollte man an die künftigen Generationen denken. Sie sollten durch Schulden nicht übermäßig belastet werden. Und auf den ersten Blick hat sie tatsächlich gewirkt. Die deutsche Schuldenquote ist von 81 Prozent 2010 auf aktuell unter 60 Prozent gesunken und liegt damit wieder unter der Grenze, die die EU fordert. Doch jetzt ändert sich der Fokus: „Angesichts eines unübersehbar großen Investitionsbedarfs mindert die Schuldenbremse den politischen Handlungsspielraum", sagt Hüther.
Dass die Debatte nun an Fahrt gewinnt, liegt auch daran, dass es ab 2020 für die Bundesländer ernst wird. Ab dann gilt die Vorschrift auch für sie. Denn während der Bund seit 2014 zu Beginn leichte (die sogenannte schwarze Null) und zuletzt kräftige Überschüsse erwirtschaftete, sieht es bei den Bundesländern ganz anders aus. Eigentlich ist Deutschland dabei geteilt. Etwa die Hälfte der Bundesländer, meist im Süden, sind kaum verschuldet. Bayern mit 1.118 Euro pro Kopf, Sachsen mit sogar nur 346 Euro. Doch dann gibt es die Bundesländer mit den hohen Schulden. In NRW betragen sie 7.652 und im Saarland 13.672 Euro. Auch in Schleswig-Holstein und den Stadtstaaten sieht es nicht gut aus. Nicht, dass sie das Geld aus dem Fenster geworfen hätten. Hier haben Strukturwandel und Globalisierung kräftig zugeschlagen. Firmen zogen weg, es kam zu Ausfällen bei Gewerbesteuer und anderen Einnahmen, gleichzeitig stiegen die Kosten für Sozialleistungen, die nur etwa zur Hälfte vom Bund übernommen werden. Die Bundesländer haben zudem kaum Spielraum für ihre Finanzen. Sie sind vielmehr abhängig von der Wirtschaftslage, die sie kurzfristig kaum beeinflussen können.
So ist der Chor der Schuldenbremsenkritiker ziemlich vielstimmig: Die einen wollen viele Milliarden für Investitionsprojekte und staatlich geprüfte Innovationen lockermachen. Andere wollen die Rezession, in der sich Deutschland – von kaum jemandem bemerkt – bereits befindet, mit Konsumausgaben auffangen oder abschwächen. Wieder andere müssen in finanzschwachen Bundesländern regieren und sehen, dass das Geld einfach nicht reicht, um Lebensbedingungen zu schaffen, die denen anderswo in Deutschland gleichen.
Inzwischen ist klar, dass die Schuldenbremse nicht die geniale Idee war, als die ihre Erfinder sie verkauften. Die Sozialausgaben sind weiter gestiegen, eben weil genug Geld da war, denn die Steuereinnahmen sprudelten. Wie das weitergeht, kann keiner sagen, aber von hohen Sozialausgaben herunterzukommen, ist immer schwer. Sie bietet auch keine Vorsorge gegen vorhersehbare Lasten wie die steigenden Pensionsausgaben. Dass Deutschland seit 2014 Überschüsse, also die schwarze Null oder mehr, erzielt, liegt denn auch weniger an der Schuldenbremse, als an den radikal gesunkenen Zinsen und an der jahrelangen Exportkonjunktur. Das war nicht die Leistung der Schuldenbremse.
Aber soll man sie deshalb lockern oder abschaffen, wie es ein Bürgerbegehren in Hamburg fordert? Es gibt sie noch, die Verteidiger. Dazu zählen neben der Bundesregierung auch Wirtschaftsexperten, die bei dem bleiben, was sie vor zehn Jahren gesagt haben. „Es wäre fatal, wenn man jetzt, wo die Schuldenbremse zum ersten Mal wirken müsste, sie gleich wieder lockern oder gar abschaffen würde", sagt Ökonom Friedrich Heinemann vom Forschungsinstitut ZEW. Die Schuldenbremse biete ja immer noch genug Spielraum – angesichts der jüngsten Überschüsse hätte Olaf Scholz noch viel Munition, bevor die Neuverschuldungsgrenze von 0,35 Prozent erreicht wäre. Im ersten Halbjahr gab es in den Staatskassen immerhin einen gewaltigen Überschuss von 45 Milliarden Euro oder 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ohnehin sei die Gefahr groß, dass das Geld nicht investiert wird, sondern in Gehälter und Sozialausgaben fließe.
Zudem geht es ja auch um Europa: „Deutschlands Schuldenabbau rettet derzeit die Bonität der Eurozone insgesamt", sagt Heinemann. In der Eurozone insgesamt seien die Staatsschulden noch immer gefährlich hoch. „Die fallenden deutschen Schulden bilden ein wichtiges Gegengewicht zu den immer noch steigenden in Frankreich oder Italien", sagt Heinemann. Sein Fazit: „Die Schuldenbremse verdient es, verteidigt zu werden."
Und stimmt überhaupt die These vom großen Investitionsbedarf? Mancherorts sieht es schlimm aus, viele Betonwüsten der 70er-Jahre schreien förmlich danach, wieder Baustellen zu werden. Aber scheitert es da am Geld?
Die KfW, der wichtigste Geldgeber Deutschlands, fragt regelmäßig in den Kommunen nach, wie es dort finanziell aussieht. 2018 betrug der Investitionsrückstau demnach 138 Milliarden Euro, gut 20 Milliarden weniger als ein Jahr zuvor. Diese Zahl wird immer zitiert von denen, die die Schuldenbremse weghaben wollen. Die Umfrage zeigt aber auch, dass die Finanzlage vieler Kommunen gut ist und dass Projekte an ganz anderen Gründen scheitern – vor allem an Engpässen bei Bauunternehmen und Handwerkern. Zudem gilt: Manche Investitionsprojekte scheitern auch am Widerstand der Bevölkerung, und es soll auch manche geben, die an der Inkompetenz der Verantwortlichen scheitern. Geld ist das Letzte, woran es mangelt.