Warum die AfD im Osten zulegt und die klassischen Volksparteien verlieren
CDU und SPD sind bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg mit einem blauen Auge davongekommen. Die Union bleibt im Dresdner Parlament, die Sozialdemokraten bleiben in Potsdam die jeweils stärkste Partei. Aber beide gehen gerupft aus dem Urnengang hervor.
1994 hatten die Christdemokraten in Sachsen unter Kurt Biedenkopf noch 58,1 Prozent der Stimmen geholt. Am vergangenen Sonntag verloren sie 7,3 Prozent und landeten bei 32,1 Prozent. Ähnliches Bild in Brandenburg. Unter Manfred Stolpe hatten die Sozialdemokraten 1994 satte 54,1 Prozent erreicht. Nun sind es noch 26,2 Prozent, ein Minus von 5,7 Prozent.
Es ist ein letzter Schuss vor den Bug für die Regierungsparteien. Verstetigt sich der Trend der letzten Jahre, wird es für die derzeitigen Platzhirsche äußerst eng. Denn die AfD, die erst seit 2013 existiert, ist der eindeutige Wahlgewinner. Zwar haben die Rechtspopulisten ihre beiden Maximalziele verfehlt: jeweils mehr als 30 Prozent und die Nummer-eins-Position im Landtag. Doch mit einem üppigen Stimmen-Plus hat sich die AfD auf deutlich mehr als 20 Prozent katapultiert – damit verfügt sie über den Status einer Volkspartei.
Wie keine andere Partei hat die AfD das im Osten vorherrschende Gefühl der Unzufriedenheit gebündelt. In Sachsen unterstreichen 66 Prozent der Einwohner den Satz: „Ostdeutsche sind Bürger zweiter Klasse". Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die alten Wunden nicht verheilt. Was der Zusammenbruch der DDR für die Menschen wirklich bedeutet hat, haben im Westen wohl nur wenige verstanden: der Tod der alten Industrien, Massenarbeitslosigkeit, der Wegfall des Kollektiv-Staats, die Neu-Orientierung in der unbekannten Welt der Freiheit.
Was die Ostdeutschen am meisten bemängeln, ist die fehlende Anerkennung ihrer Lebensleistung. Ihr Vorwurf: Wir haben Jahrzehnte in einem Zwangs-Regime verbracht, mussten uns nach dem Verlust unserer gesellschaftlichen Grundlagen neu definieren – und im Westen werden wir nur als „Jammer-Ossis" verspottet. Der Osten leidet vor allem unter einem Wertschätzungs-Trauma. Daran ändern auch die schön sanierten Innenstädte, die neuen Autobahnen und die zwei Billionen Euro für das Projekt deutsche Einheit nichts.
Zum Verständnis-Bruch haben beide Seiten beigetragen. Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl hatte mit dem Versprechen der „blühenden Landschaften" zu schnell zu große Erwartungen geweckt. In der Ex-DDR hingen hingegen zu viele der Illusion an, dass mit der Wiedervereinigung das Paradies beginne.
Zwei Ereignisse haben im Osten den Eindruck der Benachteiligung verstärkt. Während der Finanzkrise 2008/09 kürzte der Staat die Gelder für den Solidarpakt weiter und investierte weniger in die neuen Länder. Gleichzeitig hatte er Milliarden für die Bankenrettung übrig und konnte auch noch Griechenland aus der Patsche helfen. Im Zuge der Flüchtlingskrise 2015/16 fragten sich viele: Was haben die Syrer, Afghanen oder Nigerianer geleistet? Wir haben geschuftet, und die bekommen Euros fürs Nichtstun? Finanz- und Flüchtlingskrise befeuerten bei vielen die Wahrnehmung, dass der Staat die Kontrolle verloren habe. All dies war Wasser auf die Mühlen der AfD.
Ihre Kraft schöpft diese aus den ländlichen und kleinstädtischen Regionen – ähnlich wie die Brexit-Anhänger in Großbritannien oder die Fans von Präsident Donald Trump in den USA. Die größte Zustimmung hat die AfD im Osten in strukturschwachen Regionen. Jeder Tante-Emma-Laden, der dichtmacht, jede Schule, die schließt, verstärkt die Meinung: Wir sind abgehängt. Das passt zu der allgemeinen Klage, dass die Löhne im Schnitt mehr als 20 Prozent unter West-Niveau liegen und sich kaum große Unternehmen im Osten ansiedeln.
In Sachsen und in Brandenburg haben es die traditionellen Parteien versäumt, die Probleme anzupacken, die vielen Menschen auf den Nägeln brennen. Sie erschöpften sich vor allem in Insider-Debatten darüber, wie rechtsradikal die AfD sei und wie man sie am besten isolieren könne. Deren Wähler war dies reichlich egal – sie wollten vor allem ihren Protest loswerden. Die Etablierten tun gut daran, ihre Lehren aus den Wahlen in Sachsen und Brandenburg zu ziehen: Hin zu den Leuten gehen, zuhören, überzeugen. Andernfalls droht Ende Oktober in Thüringen die nächste Klatsche.