Verschwitzte Klamotten? Bei Nacktwanderern stellt sich dieses Problem nicht. Dafür haben sie mit anderen Vorurteilen zu kämpfen. Eine Spurensuche auf dem Harzer Naturistenstieg.
Die Fahrt in die Freiheit dauert für Philipp fast einen Tag. 630 Kilometer hat der 44-Jährige zurückgelegt, um von seinem Schweizer Heimatort Bülach nach Ostdeutschland zu gelangen. Dort angekommen, an der Talsperre Wippra, lässt er sofort die Hüllen fallen: T-Shirt, Hose und Unterhose bleiben in seinem schwarzen Kombi zurück; nur eine Mütze, eine Sonnenbrille und ein Paar Wanderschuhe verbleiben am Körper. Keine Kleidung, keine Verbote, keine dummen Sprüche.
Philipp hat sein Reiseziel ganz bewusst gewählt. In den Wäldern von Wippra, einem Dorf mit knapp 1.400 Einwohnern, begegnet man nur selten anderen Menschen. Und wenn doch, dann sind diese vorgewarnt. „Willst du keine Nackten sehen, darfst du hier nicht weitergehen", steht auf einem Schild, das unmittelbar neben dem Wanderparkplatz aufgestellt wurde. Es weist auf den Harzer Naturistenstieg hin, Deutschlands ersten Nacktwanderweg, der im Jahre 2010 eröffnet wurde. Sein Erkennungszeichen: der Buchstabe N.
Philipp gehört zu den Menschen, die hier regelmäßig wandern. Der größte Teil seiner Familie, seiner Kollegen und Freunden weiß nichts von seinem Hobby, weshalb er seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte.
Nackte Männer im Wald? Das hat für viele noch immer etwas Anrüchiges.
„Die meisten würden es gerne mal ohne Klamotten probieren"
Schnell werden Bezüge zu Exhibitionisten gezogen, zu Belästigungen oder sogar sexuellen Übergriffen. Dabei will Philipp einfach nur in Ruhe spazieren, so wie ihn die Natur geschaffen hat. „Man spürt den Wind und den Regen mit allen Sinnen", schwärmt der Nacktwanderer. „Und es gibt keine verschwitzte Kleidung, die am Körper klebt."
In der Schweiz lebt Philipp sein Hobby nur selten aus. Wesentlich konservativer sei es dort – und dichter besiedelt. „In Frankreich ist es schon eher möglich", findet der 44-Jährige. „Aber auch dort spielt sich das nackte Leben eher am Strand ab." Am lockersten gehe es immer noch in Deutschland zu, wenngleich es auch dort Einschränkungen gebe. „Ich nutze auch Wege, die nicht speziell für Nudisten ausgezeichnet sind. Dabei achte ich immer darauf, möglichst wenig frequentierte Strecken zu nehmen. Ich will ja niemanden provozieren." Hin und wieder komme es trotzdem zu Diskussionen, wobei die meisten „Textil-Wanderer" aber nur neugierig seien. „Die meisten würden es gerne mal ohne Klamotten probieren", sagt Philipp. „Aber sie trauen sich nicht."
Dass man in der Öffentlichkeit überhaupt nackten Menschen begegnet, ist heutzutage die Ausnahme. Im Kino, in TV-Serien und in der Werbung sieht man sie ständig. Aber im echten Leben? Allenfalls an FKK-Stränden, auf Nacktwanderwegen oder in der Sauna. Die Freiheit, die dort gelebt wird, bleibt der Mehrheitsgesellschaft in aller Regel verborgen. Und wenn nicht, dann gibt es schnell Ärger. So wie in München, wo Sicherheitskräfte diesen Sommer gegen Frauen vorgingen, die oben ohne an der Isar badeten. Oder im Schweizer Appenzell, wo sich die Bevölkerung schon vor zehn Jahren über den aufkommenden Nackttourismus echauffierte – so sehr, dass das Stimmvolk das Hobby kurzerhand verbot.
Die Ablehnung basiert häufig auf Missverständnissen. Auf der einen Seite die friedliche Wandergruppe, die der Natur näherkommen möchte. Auf der anderen Seite der Exhibitionist, der sich ungefragt vor Unbeteiligten entblößt: Nicht immer kann die Textil-Fraktion, die nackte Tatsachen nicht gewohnt ist, beides voneinander unterscheiden. Die Autorin Nicole Wunram weist in ihrem Buch „Nacktwandern" deshalb explizit darauf hin, „dass provokante Positionen und sexuelle Handlungen nichts mit Nacktwandern zu tun haben und strafrechtlich verfolgt werden können".
Wunram beschreibt nicht nur Besonderheiten und Gefahren, die einem beim Nacktwandern begegnen (Zecken, Sonnenbrand), sondern auch skurrile Fragen, die bekleidete Mitmenschen stellen: „Ist euch nicht kalt? Seid ihr überfallen worden? Habt ihr nicht was vergessen?" Dabei beginne die Geschichte des Nacktseins doch schon bei Adam und Eva. In der Antike sei nacktes Turnen die Norm gewesen, ebenso das gemeinschaftliche Nacktbaden in den römischen Thermen. Erst im Mittelalter, ausgelöst durch Pest und Syphilis, habe eine neue Phase der „Prüderie und Körperfeindlichkeit" begonnen.
Autorin räumt mit Vorurteilen auf
Acht Jahre sind vergangen, seit Wunrams Buch erschienen ist. Viel getan hat sich seither nicht. Zwar wurde kurz darauf ein weiterer, zehn Kilometer langer Nacktwanderweg in der Lüneburger Heide eröffnet. Seither aber stagniert die Entwicklung. „Der Trend geht leider in die konservative Richtung", sagt Wunram, „gerade bei jüngeren Leuten."
Auch seien es vor allem die Männer, die ihre Kleidung ablegen: „Ich denke, dass viele Frauen leider ein Problem mit ihrem nackten Körper haben, weil er nicht so aussieht wie in vielen Zeitschriften. Männer machen sich darüber wahrscheinlich keine Gedanken."
Dass sich unser Verhältnis zur Nacktheit in nächster Zeit entspannt, erscheint eher unwahrscheinlich. Manche mögen dafür muslimische Einwanderer verantwortlich machen, die nach dem Sport nur noch in Badehose duschen oder mit Burkinis das Gegenteil von FKK repräsentieren. In Wahrheit ist die Feindlichkeit gegenüber nackter Haut aber auch im westlichen Zeitgeist tief verankert.
Die USA treiben diesen Trend auf die Spitze: Mit Gewaltszenen haben die meisten Internetplattformen kein Problem. Sobald aber bei Facebook eine Frau ohne Bikini auftaucht, wird der Account gesperrt. Kein Wunder also, dass auch in Europa den Menschen die Lust an der Natürlichkeit vergeht: Das viel gepriesene Pariser Nackt-Restaurant „O’Naturel" musste Anfang des Jahres schließen, weil kaum noch Gäste kamen.
Ganz verloren ist die Hoffnung für Nudisten dennoch nicht. Ihr größter Verein, der Deutsche Verband für Freikörperkultur (DFK), vermeldet sogar steigende Mitgliederzahlen. Der Vorsitzende Wilfried Blaschke (60) spricht von einem Zustrom besonders in städtischen und stadtnahen Gebieten. „Auf dem Land ist es eher anders herum", sagt Blaschke und zieht einen Vergleich mit Homosexualität: „Nach außen hin ist sie akzeptiert, aber hinter vorgehaltener Hand wird oft noch getuschelt. Auch uns halten viele für Verrückte."
Er selbst habe lange überlegt, wie er sich bei öffentlichen Auftritten des Verbands präsentiert, erzählt der Vorsitzende. „Zu Hause denke ich nicht daran, die Vorhänge zuzuziehen, aber wenn ich nach dem Schwimmen die Sieger ehre?" Am Ende hätten sich einige Nacktschwimmer sogar darüber moniert, dass er bekleidet gewesen sei. „Manche sind da liberaler, andere nicht", sagt Blaschke. So gebe es im Verein durchaus Mitglieder, die im Urlaub nicht den ganzen Tag nackt herumliefen. „Beim Tag der offenen Tür ist es fast ein wenig paradox. Da sind die meisten von uns bekleidet, um niemanden zu verschrecken. Wir wollen niemanden missionieren."
Ein Sonnenbrand ist seine größte Sorge
Der Zukunft blickt Blaschke mit gemischten Gefühlen entgegen. Er selbst ist Banker und geht in Frankfurt offen mit seinem Hobby um. „Auf dem Land wird die Mitgliedschaft dagegen oft noch verschwiegen", sagt der Verbandspräsident. Nacktwanderer seien übrigens nur eine Randgruppe im DFK. „Das ist schon etwas Besonderes. Viele von uns bleiben eher unter sich, während Nacktwanderer in die Öffentlichkeit gehen." Was nun besser ist? „Das entscheidet jeder selbst."
Zurück auf dem Harzer Naturistenstieg. Am späten Vormittag schlendert Ralf durch den Wald, bekleidet nur mit Sandalen und einem Turnbeutel. Auch er möchte anonym bleiben, verrät aber, dass er aus dem Ruhrgebiet stammt und mehrmals pro Jahr auf einem der beiden Nacktpfade in Deutschland wandert. „Es ist wirklich schön hier", sagt der braun gebrannte Mann, der nach eigenen Angaben meistens alleine unterwegs ist. „Solche Wege liegen immer abseits der touristischen Hotspots. Wir wollen ja niemanden verschrecken."
Auf Begegnungen mit der Textil-Fraktion angesprochen, berichtet Ralf von netten Gesprächen. Nur selten reagierten andere Wanderer abweisend. „Natürlich fühlt man sich nicht immer willkommen", sagt der 50-Jährige und zeigt auf mehrere umgestürzte Bäume, die den N-Weg blockieren. „Manchmal frage ich mich, ob die Sturmschäden durch das Forstamt absichtlich noch nicht beseitigt wurden." Dann wischt Ralf den düsteren Gedanken beiseite. „Die Luft auf meiner Haut zu spüren, bereitet mir immer gute Laune", sagt der 50-Jährige. Seine größte Sorge an diesem Tag? Ein möglicher Sonnenbrand. „Ich trage doch nichts, was mich schützt."