Schwere Zeiten für Victoria’s Secret, die wohl berühmteste Lingerie-Marke der Welt. Wegen Umsatzeinbrüchen und fallender Aktienkurse wird die spektakuläre Fashionshow nach 25 Jahren erstmals gestrichen.
Totgesagte leben gelegentlich länger. Das könnte auch für das ikonische US-Dessous-Label Victoria’s Secret gelten, dessen vermeintlicher Schwanengesang durch das Urteil des Analysten Randal Konik von der renommierten New Yorker Investmentbank Jefferies im Juli 2018 eingeläutet worden zu sein schien: „It’s game over for Victoria’s Secret." Eigentlich hatte es sich dabei nur um eine knappe Notiz zur Kundenwarnung gehandelt, die aber schnell in die Öffentlichkeit gelangte. Da das Hauptgeschäft von Jefferies’ Unternehmen mit großem Wachstumspotenzial sind, war der Hinweis für finanzkräftige Investoren allerdings nur logisch. Denn beim amerikanischen Lingerie-Weltmarktführer Victoria’s Secret liegt derzeit vieles im Argen.
Die Marke hat an Ansehen eingebüßt
Die Umsätze sind 2018 und 2019 rückläufig, vor allem das Geschäft in den rund 1.170 Einzelhandelsläden war trotz satten Rabatten und verlängerten Sonderverkaufsaktionen nicht zufriedenstellend, was 2018 zur Schließung von 20 Filialen in den USA geführt hatte, 2019 ist sogar die Auflösung von 53 Wäscheboutiquen vorgesehen. Das Schwächeln des Flaggschiffs Victoria’s Secret hat zwangsläufig auch den Aktienwert des an der New Yorker Börse notierten und von dem 82-jährigen Leslie Wexner geführten Mutterkonzerns Limited Brands (L Brands), zu dem beispielsweise auch noch die Wäsche-Zweitmarke Pink oder die Parfümeriekette Bath & Body Works gehören, in Mitleidenschaft gezogen. Und last but not least hatte die Marktforschungsfirma Yougov in einer Umfrage ermittelt, dass die Marke in den USA zuletzt stark an Ansehen eingebüßt hatte, vor allem bei Frauen zwischen 18 und 49 Jahren. Dennoch erscheint es ziemlich voreilig, daraus wie beispielsweise die „Vogue" oder die „Glamour" den Schluss zu ziehen, dass Victoria’s Secret vor dem Aus steht. Auch wenn die Marke den Einstieg ins Onlinegeschäft verschlafen und viel zu lange auf den stationären Handel gesetzt hatte. Denn immerhin handelt es sich bei L Brands um einen der größten Bekleidungskonzerne der Welt mit einem Umsatz von 12,63 Milliarden Dollar im Jahr 2018 laut statista.com. Victoria’s Secret hatte dazu den Hauptanteil in Höhe von 7,39 Milliarden Dollar beigetragen. Für 2019 prognostiziert statista.com für L Brands einen Umsatz von 13,24 Milliarden Dollar, für Victoria’s Secret einen Umsatz von 7,38 Milliarden Dollar. Zudem ist Victoria’s Secret laut dem US-Wirtschaftsmagazin „Forbes" noch immer mit einem Marktanteil von 28,8 Prozent im Jahr 2018 der absolute Lingerie-Spitzenreiter in den USA.
Die Konzernleitung verbreitete im Mai die Meldung, dass die legendäre Victoria’s Secret Fashionshow nach fast 20 Jahren TV-Präsenz abgesetzt werden soll. Anfang August erfolgte außerdem der Rücktritt des langjährigen Marketingchefs Ed Razek, dem eigentlichen Macher und Urvater der geflügelten Traum-Engel. Die Mitteilungen lösten wilde Spekulationen über die Gründe des offensichtlichen Niedergangs der Kultwäsche-Marke aus. Dabei bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich letztlich um hausgemachte Probleme handelte.
Am meisten kritisiert wurde das von Victoria’s Secret seit den 90ern propagierte und als nicht mehr zeitgemäß angesehene weibliche Schönheitsideal. Denn kaum eine Frau verfüge bekanntlich über die XXS-Maße der „Engel" und möchte sie sich heute noch als erstrebenswertes Ziel von einem Wäschelabel vorschreiben lassen. Traumhaft schöne Ladys mit ellenlangen Beinen, üppigen Brüsten, schlanken (Hunger-)Taillen und makelloser Haut (auch dank aufwendiger Backstage-Retuschen) in sexy Unterwäsche wie seidigen Höschen, perfekt sitzenden BH-Muscheln, Push-up-Einlagen, wilden Mustern oder funkelnden Strasssteinchen könnten zwar Männerfantasien befriedigen, würden inzwischen aber von modernen, emanzipierten, selbstbewussten Frauen längst nicht mehr als Vorbilder akzeptiert. Tatsächlich machte der Trend hin zu bequemen Athleisure-Klamotten – auch für drunter, beispielsweise mit bügellosen Bralettes – und die mächtige Body-Positivitiy-Bewegung Victoria’s Secret mächtig zu schaffen. Die Body-Positivity propagiert von den USA aus weltweit die Idee, dass alle Körper auch jenseits des Schlankheitsideals schön sind. Die Diskrepanz wird also deutlich.
Zumal es inzwischen eine ganze Reihe von Labels gibt, die die Stärke und Natürlichkeit der Damen auch durch schlichte und natürliche (Diversity-)Lingerie-Designs zum Ausdruck bringen möchten, beispielsweise die Marke Agent Provocateur, die italienische Brand Intimissimi, das Dessous-Label Savage x Fenty von Rihanna, die Marke Ivy Park von Beyoncé und vor allem der größte US-Konkurrent von Victoria’s Secret, Aerie, ein mit einem wahnsinnigen Umsatzwachstum glänzendes Tochterunternehmen des in Pittsburgh ansässigen Konzerns American Eagle Outfitters, dessen Umsatz 2018 auf knapp 3,8 Milliarden Dollar taxiert wurde. Aerie setzt ganz bewusst auf Diversity und Body Positivity, Aushängeschild ist dabei das Curvy-Model Iskra Lawrence, und trifft damit derzeit voll den Nerv kauffreudiger Kundinnen, weil diese sich mit unretuschierten Werbekampagnenbildern des Labels viel besser identifizieren können. Auch Rihanna hatte ihre Dessous nicht von Supermodels präsentieren, sondern sogar Schwangere oder Transgender darin auf der Bühne posieren lassen.
Schönheitsideal wird kritisiert
Für reichlich Kritik in den sozialen Medien hatte Ed Razek im Oktober 2018 gesorgt, als er in einem Interview mit der „Vogue" betont hatte, dass man bei Victoria’s Secret keine Plus-Size- oder Transgender-Models auf der Bühne haben wolle, weil man schließlich „eine Fantasie" verkaufen wolle. Das hatte einen wahren Shitstorm zur Folge. Dennoch hat sich Victoria’s Secret inzwischen dem Druck gebeugt und mit der Brasilianerin Valentina Sampaio, die auch schon das Cover der französischen „Vogue" geziert hatte, im Sommer das erste Transgender-Model unter Vertrag genommen. Das als sexistisch eingestufte Frauenbild von Victoria’s Secret bot natürlich auch den Metoo- und Time’s-up-Bewegungen reichlich Angriffsfläche. Zumal sich aus einem Anfang August bekannt gewordenen, von 100 Victoria’s-Secret-Models unterschriebenen offenen Brief an das Label ableiten ließ, dass es in der Vergangenheit hinter den Kulissen womöglich zu Übergriffen oder sexuellem Fehlverhalten von Fotografen oder hochrangigen Mitarbeitern gekommen sein könnte.
Ob es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Quoten-Super-GAU der TV-Übertragung der letzten Victoria’s Secret Fashionshow Ende 2018 und den kurz zuvor vermeldeten Missbrauchsvorwürfen gegen den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein gab, wird sich wohl niemals sicher ermitteln lassen. Jedenfalls war der Einbruch des Zuschauerinteresses an dem Mega-Event, das seit 2001 regelmäßig in der Vorweihnachtszeit über die US-Bildschirme flimmerte, mit 30 Prozent geradezu dramatisch. Gerade mal 3,27 Millionen Interessierte fanden sich vor der Mattscheibe ein, 1,5 Millionen weniger als im Vorjahr und meilenweit vom Rekordwert des Jahres 2001 mit 12,4 Millionen Zuschauern entfernt.
Womöglich hatte einfach kaum jemand mehr Lust, sich die leicht bekleideten Überfrauen anzusehen, trotz des wie immer hochkarätig besetzten musikalischen Rahmenprogramms mit Shawn Mendes, Rita Ora und Co. Früher hatten sich Megastars wie die Spice Girls oder Andrea Bocelli auf der Bühne die Ehre gegeben. Für die Models, die drei Jahre nach der noch nicht vom Fernsehen ausgestrahlten Premierenshow 1998 erstmals beflügelt über den Laufsteg stolzierten, war die Nominierung zum Engel so etwas wie ein Ritterschlag. Eine ganz besondere Ehre wurde dabei der Lady zuteil, die den diamantenbesetzten Fantasy-Bra als absoluten Höhepunkt jeder Show präsentieren durfte. Claudia Schiffer machte 1996 den Anfang, Heidi Klum durfte sich gleich dreimal juwelenübersät zeigen (1999, 2001 und 2003). In diesem Jahr wird es keine Show mehr geben, weil Leslie Wexner das Fernsehen nicht mehr als zeitgemäße Plattform ansieht und sich auf die Suche nach neuen medialen Präsentationsformen seiner Kollektionen begeben möchte.
Wie es künftig bei Victoria’s Secret weitergehen wird, ist noch nicht abzusehen. Wexner hat versprochen, dass die Marke gänzlich neu erfunden werde. Auf der hauseigenen Webseite wurde die aktuelle Herbst-Kollektion als eine Art erste Neukonzeption angepriesen: „Unsere bisher sinnlichsten, aufregendsten Dessous." Immerhin tauchen darin Höschen und BHs auf, die vergleichsweise schlicht gehalten sind. Daneben gibt es aber auch die gewohnten schrilleren Wäschestücke mit Animalprints. Von der bisherigen Sex-sells-Vermarktung wird sich Victoria’s Secret verabschieden müssen, das langjährige Reizwäsche-Label, das 1977 von Roy Raymond gegründet und 1982 an Leslie Wexner verkauft wurde, wird sich ein neues Image zulegen müssen, um wieder in die gewohnte Erfolgsspur zurückkehren zu können.