Das Forschungsschiff Polarstern hat sich auf die Reise ans Ende der Welt gemacht: die größte Polarexpedition aller Zeiten. Ein Jahr soll der umgebaute Eisbrecher in der Arktis festfrieren, damit die rund 50 Wissenschaftler aus 17 Nationen in Ruhe forschen können.
Ein warmer Sommerabend im August 2019: Der Sturm tagsüber ist abgeflaut, die „blaue Stunde" senkt sich über Bremerhaven. Pünktlich um 21 Uhr lässt Kapitän Thomas Wunderlich das Signalhorn zum Auslaufen der Polarstern erschallen. Das frisch in blauer und weißer Farbe lackierte Forschungsschiff wird von Schleppern in die Schleuse gezogen. So schicken sie es auf große Fahrt. Ein Jahr lang wird das Schiff den Heimathafen nun nicht mehr anlaufen. Wenn alles gut geht. Auf den Tag genau vor 500 Jahren ließ der portugiesische Seefahrer Ferdinand Magellan die Segel für die erste erfolgreiche Weltumrundung hissen. Ein Zufall.
„Wenn wir die Framströmung treffen, kommen wir auch in der Framstraße heraus", sagt Wunderlich und zündet sich eine Zigarette an. Das ist die einfache Beschreibung für eine Durchquerung des arktischen Polarmeeres. Die Anspannung ist dem Kapitän des Eisbrechers kurz vor der Abfahrt nur durch das häufige Klicken seines Feuerzeugs anzumerken. Kurz ruft er die rund 50 Wissenschaftler an Bord noch zur Notfalleinweisung auf den Landeplatz des Helikopters. Die Forscher, darunter viele Doktoranden und Praktikanten, legen die roten Rettungswesten an und hören den Anweisungen der Crew zu. Die „Bullenshow", bei der sie die Offiziere der Polarstern kennenlernen, findet erst auf See statt.
Es geht in uraltes Neuland
Von dieser letzten Station an Land wird sich der bullige Eisbrecher mit sieben Decks durch die Wellen ins ostsibirische Meer kämpfen und dort eine große, feste Eisscholle suchen, die ein Jahr lang als Basis der Polarstern dienen soll. Dann wird der Motor gestoppt, und das Schiff friert langsam im Eis ein. Auf die ebenfalls etwa 50 Crewmitglieder und die Forscher wartet dort erst einmal eine lange Periode der Dunkelheit. Ab November dringt tagsüber kein Licht mehr durch, jenseits des 80. Breitengrades auch kein Polarlicht mehr. Diese Tour hat der norwegische Entdecker Fridjof Nansen zwischen 1893 und 1896 erfolgreich gewagt. 2006 ließ sich das kleine französische Forschungsschiff Tara auf diese Reise ein. Viel mehr als die Erkenntnisse dieser beiden Expeditionen hat die Wissenschaft derzeit nicht. Es geht sozusagen in uraltes Neuland.
Die Polarstern gehört der Bundesrepublik Deutschland, genutzt wird sie vom bundeseigenen Alfred-Wegener-Institut (AWI), dass Meeres- und Polarforschung betreibt und nun die Expedition der Superlative führt. Dem Eisdruck werde das Schiff locker standhalten, versichert Wunderlich. Bis zu 1,50 Meter starkes Eis durchpflügt die Polarstern problemlos. Ist die Wand dicker, nimmt der Kapitän wieder und wieder Anlauf, um einen freien Weg zu bahnen. Fast 20.000 PS stark sind die Maschinen. „Das ist eine gutmütige alte Dame", sagt Wunderlich. 1982 war ihr Stapellauf.
Der Raum auf dem 118 Meter langen Schiff ist bis auf den letzten Zentimeter mit Forschungsequipment beladen. In blauen Containern sind Labore untergebracht, unter Deck wartet ein Raupenfahrzeug auf die erste Eisberührung. Für Abwechslung der Besatzung sorgt ein Besuch im „Zillertal". Das ist die kleine Bar an Bord, deren Wänden mit Hunderten bunten Aufklebern versehen sind und wo es ein frisch gezapftes Bier gibt. Die künstliche Holzvertäfelung und die roten Stoffsessel und Sofas versprühen den Charme der frühen 80er-Jahre. Currywurst, Pommes und Salatbüfett stehen als letzte Mahlzeit vor der Abfahrt für die Besatzung bereit.
Der Luxus von Kreuzfahrtschiffen ist hier so weit entfernt wie das Reiseziel Polarmeer. Die Wissenschaftler teilen sich je zu zweit eine Kabine mit Doppelstockbett und großem Schreibtisch. Der kleine Spind reicht gerade einmal für die wichtigsten persönlichen Habseligkeiten. In einem zweiten Spind außerhalb können die Mitfahrer und Mitfahrerinnen das Outfit für die Feiern an Bord unterbringen. Davon gibt es durch die multinationale Zusammensetzung viele. Christliche Weihnacht, russisch-orthodoxe, das chinesische Neujahrsfest und einiges mehr.
Anspannung und Vorfreude steht den Teilnehmern kurz vor der Abfahrt ins Gesicht geschrieben. „Ich bin ziemlich aufgeregt", sagt eine junge Frau, die sich zum ersten Mal auf große Fahrt begibt. Eigentlich ist sie Psychotherapeutin von Beruf. Doch ein privater Einschnitt habe sie bewogen, nun etwas ganz anderes anzufangen. Nun begleitet sie die Forscher als Stewardess an Bord. Es wird Zeit. Die Seeleute werden gleich die Gangway fortziehen. Sie geht schnell wieder auf das Schiff.
Das hat Olaf Stenzel mit seinem kleinen Sohn gerade verlassen. Der Polizist und Waffenexperte wird im September im norwegischen Tromsø wieder an Bord gehen. Er ist für den Schutz der Expeditionsmitglieder vor Eisbär-Attacken zuständig. Derlei Angriffe sind eines der größten Risiken auf der Tour. Niemand weiß, wie viele es in der Zielregion gibt. Die Wissenschaftler arbeiten außerhalb des sicheren Bootsrumpfes. Das macht sie angreifbar.
Insgesamt sechs Eisbärwächter
„Ziel ist es, keine Eisbären zu töten", sagt der Waffenexperte. Dafür haben Forscher und Crew reichlich unter seiner Anleitung geübt. „Ein Eisbär ist so schnell wie ein Pferd", erläutert er. Weglaufen ist keine Option. Die Tiere sollen den Menschen möglichst gar nicht erst nahekommen. Deshalb wird in einem weitem Abstand rund um das Schiff ein Signalzaun errichtet. Bei Berührungen löst sich eine Leuchtkugel zur Warnung. Auf Hochständen verfolgen die insgesamt sechs Eisbärwächter Bewegungen auf dem Eis. Bei der vorherrschenden Dunkelheit ist das nur mit Nachtsichtgeräten möglich. Auch die Wissenschaftler und Crewmitglieder sind damit ausgestattet. Nur im Notfall, wenn sich ein Eisbär auf weniger als 30 Meter annähert, darf geschossen werden. Stenzel war schon fünfmal zu Einsätzen auf Spitzbergen unterwegs und hat Erfahrung mit solchen Herausforderungen.
Auf viele Szenarien haben sich Seeleute und Forscher vorbereitet. Es wurden Spezialanzüge getestet, in denen sich ein Sturz ins eiskalte Wasser des Polarmeeres überleben lässt. Kapitän Wunderlich musste 48 Stunden in einem Rettungsboot zubringen. Für ihn ist in Tromsø erst einmal Schluss. Dort übernimmt Kapitän Stefan Schwarze das Kommando für die ersten Monate der Expedition. Die zweite Hälfte leitet dann wieder Wunderlich.
Der Klimaforscher Markus Rex leitet die Mammut-Expedition. Jetzt schaut er der in die Nordsee einfahrenden Polarstern erst einmal nach, die allmählich am Horizont verschwindet. Rex geht erst in Tromsø an Bord. Der Spitzenforscher erhofft sich eine riesige Datenmenge aus den Messungen am Pol. „Die Arktis ist die Wetterküche der Nordhalbkugel", sagt er, „doch wir haben kaum Daten davon für unsere Klimamodelle". Am Himmel ist nur noch ein schmaler roter Streifen zu sehen. „Acht Grad über dem Horizont", stellt Rex fest, „so hell ist es im Polarmeer im Oktober zur Mittagszeit". Danach wird es für lange Zeit dunkel.