In Tennessee lebt eine der letzten Deutschen, die Ende der 40er-Jahre im Zusammenhang mit der „Operation Paperclip" in die USA kamen. FORUM-Autorin Sabine Loeprick hat die 94-Jährige getroffen.
Gerade noch hat Renate Ritter ihren Rollator vorsichtig in das sonnendurchflutete Wohnzimmer manövriert, jetzt sitzt sie in einem bequemen Sessel, eine Kaffeetasse in der Hand und vor sich einen Donut mit dickem Zuckerguss. Und nur wenig später entfalten Koffein und Zucker ihre Wirkung und zaubern etwas Farbe auf die Wangen der 94-Jährigen, die nun zu erzählen beginnt – davon, wie es sie vor wenigen Jahren nach Cookeville in Tennessee, in die USA aber schon vor über 60 Jahren verschlagen hatte.
Renate Alice Ritter ist eine der letzten noch lebenden Deutschen, die im Zuge der sogenannten Operation Paperclip kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA gebracht wurden. Als Ehefrau des Physikers Arnold Ritter trat sie mit ihren beiden kleinen Töchtern die Schiffsreise von Bremerhaven nach New York fast zwei Jahre später als ihr Mann an. Der war bereits 1946 gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern – allen voran Wernher von Braun – in die Vereinigten Staaten geholt worden – er hatte einen Fünf-Jahres-Vertrag bei der US-Air-Force für die Arbeit auf ihrer Basis in Dayton, Ohio bekommen.
Einen geschickten Schachzug der Amerikaner nennt das Renate Ritter heute im Rückblick und auch in ihrem Buch. Vor zwei Jahren ist jener Band erschienen, in dem sie nicht nur ihre Jugend im NS-Deutschland, die Begegnung mit ihrem späteren Ehemann, dem jungen Physiker, und die Kriegsjahre schildert, sondern auch auf die langen zwei Jahre im zerstörten Nachkriegsdeutschland eingeht, in denen sie darauf wartete, dass sie ihrem Mann in die USA folgen konnte. Ebenso schildert sie die Überfahrt 1948 nach New York in einer engen Kabine, die sie sich mit der Frau und den kleinen Kindern eines anderen Wissenschaftlers teilen musste.
Die Ankunft in den USA sei in vielerlei Hinsicht ein Schock gewesen, erinnert sich Renate Ritter. Die Städte waren unzerstört – ein Kontrast zur Heimat, die sie hinter sich gelassen hatte. Die Sprache, die Kultur, die übervollen Regale in den Geschäften – das waren überwältigende Eindrücke. „Als wir endlich in Dayton ankamen, nahm mich Arnold mit in einen Supermarkt. Mit den Einkaufswagen konnten wir zunächst gar nichts anfangen, denn wir waren es nicht gewohnt, dass man seinen Einkauf nicht einfach in einem Korb unterbringen konnte", sagt sie.
Schock vor vollen Supermarktregalen
Es sollte Jahre dauern, bis Renate Ritter sich auf Englisch verständigen, im amerikanischen Alltag zurechtfinden konnte. So habe sie beispielsweise in Ohio lange gezögert, wegen ihrer Allergieprobleme einen Arzt aufzusuchen, weil sie nicht gewusst habe, wie man dort einen Termin vereinbare, schreibt sie in ihren Erinnerungen.
Heute, fast 60 Jahre später, muss Renate schmunzeln, wenn sie von diesen und anderen kuriosen Situationen während der ersten Zeit in den USA erzählt. Doch in ihrem Buch berichtet sie auch vom Heimweh nach Deutschland, dem Gefühl der Isoliertheit. Und davon, dass sie und ihre Familie bis Ende der 50er-Jahre keinen offiziellen Aufenthaltsstatus besaßen, sie das Gefühl hatte, „nicht richtig dazuzugehören".
Ähnlich muss es wohl auch ihr Mann, der Spezialist für Aerodynamik, erlebt haben. Nachdem sein Vertrag auf der Airbase in Dayton ausgelaufen war, beschloss er, nach San Diego zu gehen, arbeitete dort unter anderem eng mit dem Raketentechniker Krafft Ehricke zusammen, der ebenfalls über die „Operation Paperclip" in die USA gelangt war. Dennoch, sagt Renate, seien die meisten deutschen Wissenschaftler von den Amerikanern „vorübergehend kaltgestellt" worden. Man habe zwar verhindert, dass sie mit ihrem weit entwickelten Forschungsstand den Sowjets in die Hände fielen, an amerikanischen Erfolgen in der Raumfahrt wollte man sie – die ehemaligen Kriegsgegner – aber auch nicht unbedingt beteiligt sehen. Vielleicht ein Grund, weshalb die Ritters in den 70er-Jahren noch einmal zurück nach Deutschland gingen, richtig zu Hause hätten sie sich dort aber nicht mehr gefühlt, sagt Renate.
Also ging es noch einmal zurück in die USA, hier arbeitete Arnold Ritter als Berater unter anderem an der Entwicklung der Galileo-Raumsonde. Im Jahr 2000 starb er 90-jährig, Renate Ritter lebt seit einigen Jahren bei ihrer ältesten Tochter in Cookeville, Tennessee. Wo sie es auch genießt, in regelmäßigen Abständen mit Teilen der deutschen Community zusammenzukommen. Treffen, bei denen es auf Deutsch und Englisch um Themen aus Deutschland „damals und heute" geht – und um Lieblingsgerichte aus der Heimat. Denn wenn Renate etwas nach all den Jahren in den USA vermisst, dann ist das „die typisch deutsche Küche". Vor allem ihre heiß geliebten Kartoffelpuffer.