Der gerade mal 16-jährige Japaner Tomokazu Harimoto schickt sich an, die Tischtenniswelt aus den Angeln zu heben – und die seit 15 Jahren erdrückende Vorherrschaft der Chinesen zu brechen.
Lass die Bäume selbst für das zum Jahrhunderttalent des Tischtennissport gekürte Wunderkind nicht ohne Rückschläge in den Himmel wachsen, musste der damals noch 15-jährige Tomokazu Harimoto im April 2019 bei der Weltmeisterschaft in Budapest erfahren. Denn für den gemäß der Weltrangliste an Nummer vier gesetzten jungen Japaner kam schon im Achtelfinale das Aus. Aber der inzwischen 16-Jährige wird das sicherlich verkraften können, hat er doch in seiner bisherigen Karriere so ziemlich alle Rekorde seiner Sportart gebrochen. Zudem hat er sein Hauptaugenmerk schon sehr früh auf ein ganz spezielles Ziel gesetzt: Er möchte in seinem Heimatland bei den Olympischen Spielen in Tokio 2020 die Goldmedaille im Herrentischtennis gewinnen. Als er davon erstmals sprach, war er gerade mal zehn Jahre alt und hatte als jüngster Spieler der Geschichte bei den japanischen Meisterschaften 2014 Matches gegen etablierte Profis gewonnen und sensationell die dritte Runde erreicht. Damals wurde seine große Ambition in der Szene noch müde belächelt. Als er vier Jahre später bei den Japan Open 2018 den Titel gewann, war das Lächeln bei den meisten Experten zugunsten von Bewunderung gewichen. Denn dabei schlug er die beiden chinesischen Olympiasieger Zhang Jike und Ma Long, der geraume Zeit als nahezu unbesiegbar gegolten hatte, und stieg erstmals in die Top Ten der Weltrangliste auf, Für Harimoto Grund genug, mal wieder von seinem Ziel zu sprechen: „Ma Long ist mein Vorbild – ihn hier in meiner Heimat zu schlagen, ist unglaublich. Dies ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu meinem Ziel, 2020 Olympiasieger in Tokio zu werden." Bereits zwei Monate zuvor hatte er beim Asian Cup dem damaligen chinesischen Weltranglisten-Führenden Fan Zhendong eine bittere Niederlage bereitet und damit nach dem Tokio-Coup die drei besten Chinesen innerhalb kürzester Zeit von der Platte gefegt.
Gute Auslosung ist wichtig
Spätestens mit seinem Triumph gegen die 16 besten Spieler der Welt bei den Grand Finals der ITTF World Tour, vergleichbar mit den ATP Finals im Tennis, wagte Ende 2018 kaum mehr jemand, das Ziel Tokio-Olympiasieger als utopischen Wunschtraum eines 15-Jährigen abzutun. Selbst im Lager der Chinesen, die seit 15 Jahren bei den Herren sämtliche Titel bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen abgeräumt haben, hat sich inzwischen Unruhe breitgemacht. Vor allem deshalb, weil die sportliche Entwicklung von Harimoto in unglaublichem Tempo abgelaufen ist und weil aus chinesischer Sicht befürchtet wird, dass er sein Level bis Tokio noch einmal in ungeahnte Höhen hochschrauben könnte. Der letzte nicht-chinesische Olympiasieger stammt aus dem Jahr 2004: Der Südkoreaner Ryu Seung-min traut dem dann 17-jährigen Harimoto durchaus den Gewinn der Goldmedaille zu. Zudem erwartet er in Tokio sogar eine historische Wachablösung an der Weltspitze und das Ende der chinesischen Vorherrschaft. Verbunden mit dem dann wohl nahenden Ende von Deutschland als traditioneller Nummer zwei im internationalen Herren-Tischtennis; auch wenn auf der offiziellen Weltrangliste vom August 2019 unter den besten 15 noch drei deutsche neben drei japanischen Spielern gelistet werden.
Ryu Seung-min: „Es gibt wirklich gefährliche junge Spieler wie Tomokazu Harimoto. Und die chinesischen Spieler sind nervös, weil diese Spieler so schnell besser werden." Wobei tatsächlich nur Harimoto eine echte Gefahr für die Chinesen darstellen dürfte. Auch wenn in den vergangenen Jahren der Brasilianer Hugo Calderano und der Südkoreaner Jang Woojin gelegentlich bemerkenswerte Erfolge über Top-Chinesen erringen konnten.
Viel wird in Tokio von der Auslosung abhängen. Denn für Harimoto dürfte es enorm schwer werden, wenn er auf dem Weg zum erhofften Sieg gleich beide Spieler aus dem Land der Mitte würde ausschalten müssen. Pro Land dürfen nur zwei Spieler an den Start gehen. Ein großes Problem für Harimoto dürfte auch die nationale Erwartungshaltung sein. Es ist nicht abzusehen, ob der junge Mann dem öffentlichen Druck gewachsen sein wird.
Tischtennis hat in Nippon einen ähnlich hohen Stellenwert wie in China. Und man erwartet von Harimoto, der längst als Superstar gefeiert wird und allein für den Sieg bei den Grand Finals 2018 die Rekordsumme von 100.000 Dollar eingeheimst hatte, nichts anderes als den Gewinn der Goldmedaille.
Ungewöhnliche Abgeklärtheit für sein Alter
Was auch gegen Harimoto sprechen könnte, ist seine mangelnde Erfahrung mit Mega-Events wie den Olympischen Spielen. Bei den Youth Olympic Games in Buenos Aires hat er diesbezüglich schon eine leidvolle Erfahrung machen müssen, als er im Herbst 2018 als topgesetzter Favorit im Finale einem jungen Chinesen unterlegen war. Und auch mit der Konstanz in Harimotos Leistungen hapert es manchmal noch. Während die Chinesen sich ganz gezielt auf ihren wahrscheinlichen Hauptkonkurrenten vorbereiten können, ist eine entsprechende Vorarbeit für das Team um Harimoto nicht möglich. Weil nicht abzusehen ist, welche beiden Spieler der chinesische Verband ins Rennen schicken wird. Im August belegten vier Chinesen die ersten vier Plätze der Weltrangliste: Xu Xin, Fan Zhendong, Ma Long und Lin Gaoyuan – gefolgt von Harimoto auf Platz fünf. Harimotos Landsmann Juni Mizutani, auf Rang 14 der Weltrangliste geführt und dem Monster im Finale der japanischen Meisterschaften 2018 erstmals unterlegen, räumt seinem jungen Kollegen durchaus große Chancen im Kampf mit den Chinesen ein: „Ich habe gegen so viele chinesische Spieler gespielt und denke, dass Harimoto auf dem gleichen Level ist. Wenn er in Normalform spielt, dann werde ich nie wieder gegen ihn gewinnen. Ich bin froh, dass ich so viele Meistertitel in der Zeit vor Harimoto gewinnen konnte."
Das schmächtige Kerlchen hat von seinem Äußeren her rein gar nichts mit einem Japaner gemein. Das könnte daran liegen, dass seine chinesischen Eltern, beide ehemalige Nationalspieler, fünf Jahre vor seiner Geburt in die japanische Stadt Sendai ausgewandert waren, um dort als Tischtennislehrer ihr Geld zu verdienen. Mit Erwerb der japanischen Staatsbürgerschaft wurde der Geburtsname von Zhang Zhihe, der am 27. Juni 2003 das Licht der Welt erblickte, durch den japanischen Namen Tomokazu Harimoto ersetzt. Schon im zarten Alter von einem Jahr wurde das Kind von seinem Vater auf die Tischtennisplatte gesetzt und sollte versuchen, die zugeworfenen Bälle zurückzuschlagen. Das richtige Training begann dann schon mit zwei Jahren, als für das Kind hinter der Platte ein Stuhl aufgestellt wurde, damit es darauf sitzend das Spiel üben konnte. Nicht einmal in China ist es üblich, so früh mit dem Training zu beginnen. In der Regel greifen die Kids dort im Alter von vier oder fünf Jahren erstmals zum Schläger. Die Basis für eine Karriere als Weltklassespieler wurde also schon früh gelegt, inzwischen trainiert Harimoto bis zu neun Stunden täglich im Leistungszentrum Tokio unter Anleitung seines Vaters.
Stationen seiner bisherigen Karriere: 2014 erstmals Teilnahme an einem World-Tour-Turnier in Tokio, 2015 schlägt er bei einem Turnier erstmals zwei Top-Ten-Spieler, im selben Jahr zieht er als jüngster Spieler aller Zeiten erstmals bei einem World-Tour-Turnier in die Hauptrunde ein, unterliegt bei den Polish Open allerdings Weltmeister Ma Long, 2016 gelingt ihm als jüngstem Spieler aller Zeiten der Einzug ins Viertelfinale eines World-Tour-Turniers, im gleichen Jahr wird er jüngster Jugend-Weltmeister der Tischtennisgeschichte. 2017 erreicht er als jüngster Spieler aller Zeiten erstmals das Finale eines World-Tour-Turniers, bei der WM in Düsseldorf schlägt er im gleichen Jahr den Weltranglistensechsten Mizutani und erreicht als jüngster Spieler das WM-Viertelfinale. Bei den Czech Open 2017 gewinnt er gegen Timo Boll sein erstes World-Tour-Turnier, natürlich auch als jüngster Spieler.
Zu seinen besonderen Stärken zählen die für sein jugendliches Alter ungewöhnliche Abgeklärtheit und der enorme Druck in seinem Spiel. Außerdem präferiert er ein sehr tischnahes Spiel, was dem Gegner, aber auch ihm selbst nur eine extrem kurze Reaktionszeit erlaubt. Zudem verzichtet er ungewöhnlicher Weise auf das Umgreifen zwischen Vorhand- und Rückhand. Gefürchtet ist sein knallharter Vorhand-Flip-Schuss, der schnell und fast ohne Rotation über das Netz fliegt. Als Schläger, den er bis kurz vor dem Balltreffpunkt kräftesparend ganz locker hält, dient ihm dabei das Butterfly Holz Custom, die Vorhandseite ist mit dem Belag Tenergy 05 ausstaffiert, die Rückhand mit dem etwas weicheren Schwamm Tenergy 05 FX belegt. Manch ein Gegner fühlt sich durch seinen frenetischen, von lautem „Tschooooaaaaa"-Brüllen begleiteten Jubel nach gewonnenen Punkten genervt und provoziert.