Zwischenstopp an der Kreuzung mit den vielen Abzweigungen: Wie weiter nach dem Abi? „Ich brauche meine Zeit, um meinen Weg zu finden", sagt Linus F. Er will da keine Fehler machen.
„Erst mal nachdenken, erst mal in mich gehen", sagt er. Dann stimmt Linus (Name von der Redaktion geändert) einem Interview zu. Der 19-Jährige hat mit einer Durchschnittsnote von 1,9 in diesem Sommer sein Abitur in Berlin bestanden, jetzt jobbt er ein bisschen bei einem Konzertveranstalter, ansonsten hängt er ziemlich durch. Mit zwei Geschwistern lebt er bei seiner Mutter. „Dieses Interview", so begründet er seine Zusage, „zwingt mich, darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll." Eine Woche später treffen wir uns in einem Berliner Park.
Linus, viele Abiturienten reden nur ungern, wenn sie noch keine ganz konkreten Pläne für ihre Zukunft haben. Warum ist das so?
Bei vielen liegt es an der Erwartungshaltung der Eltern. Sie üben Druck aus, wollen eine schnelle und für sie befriedigende Antwort haben. Was machst du? Wie sind deine Vorstellungen? Wann fängst du endlich an? Aber viele Leute in meinem Alter können darauf noch keine Antwort geben. Meine Mutter übt diesen Druck Gott sei Dank nicht aus. Aber sie sagt auch ganz klar: Du kannst nicht nur rumsitzen, du musst irgendwas machen. Sie verlangt, dass ich mir erst mal einen Job suche, mehr nicht. Das leuchtet mir ein. Aber die meisten meiner Freunde machen es wie ich. Sie legen erst mal eine Pause ein.
„Ihr hängt rum und feiert nur!" – Ist das nur ein Vorurteil von Erwachsenen?
Da ist schon was Wahres dran, auch ich wollte erst mal feiern und Freizeit haben. Wir veranstalten Partys und gehen dahin. Wir haben gar keinen konkreten Anlass zu feiern, wir machen es einfach. Hauspartys, wenn die Eltern nicht da sind. Musik hören, tanzen, Alkohol trinken, rausgehen, so läuft das eben. Und wenn du nichts zu tun hast, dann sind es die Medien. Youtube, Netflix, mit anderen Leuten irgendwas am PC spielen.
Klingt nach ziemlichem Zeit verplempern …
Ja, ich habe manchmal das Gefühl, die Zeit zu verplempern, die ganzen Stunden, in denen ich mich nur gelangweilt habe. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, der beste Weg wäre, bis zum nächsten Jahr erst mal gar nichts zu machen. Aber das ändert sich jetzt. Irgendwann ist nämlich mal die Luft raus, da muss jetzt mal bald ein Kurswechsel kommen. Ich habe zwar kein schlechtes Gewissen, aber ich fange an, in andere Sachen reinzuschnuppern. In Jugendgruppen, die sich politisch engagieren, mein Wissen erweitern, wieder intensiver Klavier spielen. Ansonsten verschwende ich wirklich nur meine Zeit. Ich glaube, wenn ich richtig Verantwortung für mich übernehme, fällt dann auch dieses schlechte Gewissen weg.
Das Abitur öffnet für die meisten die Tür zum Studium. Hast Du schon konkrete Pläne?
Unmittelbar nach dem Abi war ich mehr oder minder orientierungslos. Kein Plan, keine Perspektive, nichts Konkretes. Meine besten Freunde und ich, wir haben jetzt erst mal bis zum Beginn des nächsten Wintersemesters eine Pause eingelegt, ganz bewusst. Wir überlegen erst einmal, wie es weitergehen soll. Mein Traumberuf wäre Pilot, aber ich habe eine Sehschwäche, das wird nichts. Psychologie interessiert mich, ich kann mir auch etwas in Richtung Informatik oder Wirtschaft vorstellen.
Warum orientierungslos? Es gibt Beratungen, Jobbörsen, Praktika, Messen. Du hast die freie Auswahl!
Das ist es eben – es gibt ein Überangebot an allem Möglichen, was ich in Zukunft machen könnte. Ich habe aber auch Angst, mich nicht für das Richtige zu entscheiden, und ich will nicht ein begonnenes Studium gleich wieder abbrechen, wenn ich merke, dass das nicht das Richtige für mich ist. Ich kenne Leute, die unter Druck gleich nach dem Abitur mit dem Studium angefangen haben und jetzt sehr unglücklich sind und wechseln, wieder ganz von vorne anfangen wollen. Bei mir ist es so, dass ich länger überlegen will, herausfinden möchte, was ich wirklich möchte, und das braucht eben ein bisschen Zeit. Ich habe keinen Druck von außen, aber ich möchte meinen Weg selbst suchen. Ansonsten helfen mir auch alle Broschüren und Hochschulmessen wenig. Nur so komme ich einem Ziel immer ein Stück näher, und ich möchte von Anfang an das Richtige machen und es dann auch bis zum Ende durchziehen.
Setzt Du Dich dabei selbst unter Druck oder vertraust Du darauf, dass Du wählst, was für Dich wirklich wichtig ist?
Eigentlich treibe ich mich nur selbst an, ich setze mich in Maßen unter Druck, und ich bin mir sicher, dass mir das Richtige einfällt. Dass ich später so viel Geld wie möglich verdienen kann, spielt sicher eine Rolle. Das finde ich auch gar nicht schlimm. Über Sicherheit, über einen festen Job habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Die größte Rolle aber spielt mein persönliches Interesse. Ich überlege mir, was mich persönlich und thematisch am meisten interessiert und erst einmal nicht, was andere von mir in welcher Zeit konkret erwarten.
Wo stehst Du in einem Jahr?
Ich studiere. Welches Fach genau, weiß ich noch nicht. Vielleicht ziehe ich in eine andere Stadt. Auf jeden Fall wird ein neuer Abschnitt beginnen, ich werde neue Erfahrungen sammeln und darauf freue ich mich, daraufhin bewege ich mich jetzt. Und dafür brauche ich meine Zeit.