Nach seinem Formel-1-Premierensieg in Belgien versetzte Ferrari-Pilot Charles Leclerc (21) die Italiener nur eine Woche später beim Monza-Heimsieg erneut in Ekstase. Teamkollege Sebastian Vettel gerät vor dem Singapur-Grand Prix an diesem Sonntag immer mehr ins Abseits.
Da sag noch einer, Ferrari könne nicht mehr gewinnen. 15 Rennen oder 315 Tage dauerte die Durststrecke der Roten. Dann kam in Belgien der Erlöser. Der Monegasse Charles Leclerc bescherte den Italienern den ersten Saisonsieg und sich selbst den Formel-1-Premierentriumph. Zur Erinnerung: Kimi Räikkönen (heute Alfa-Sauber) war am 21. Oktober 2018 in Austin/Texas der letzte Ferrari-Sieger. Fünf Rennen zuvor, am 26. August, feierte Sebastian Vettel in Belgien seinen 52. und bis heute letzten Grand-Prix-Sieg. Und jetzt macht ein Jungspund mit gerade mal 21 Jahren und seinem 13. Einsatz für die Scuderia (zuvor 21 Rennen in seiner Premierensaison bei Sauber mit Ferrari-Motor) der roten Misere ein Ende. Und erlöste nur eine Woche später beim Ferrari-Heimrennen in der Motorsport-Kathedrale Monza die stolzen Italiener nach acht sieglosen Jahren (2010 Fernando Alonso) von einem weiteren Fluch. Aber der Reihe nach: Beginnen wir bei Leclercs Siegesrennen in den belgischen Ardennen.
Auf der Hochgeschwindigkeits-Achterbahn bewies Ferraris Jungstar bis zum Ende des Rennens Nerven wie Drahtseile. Und ließ sich auch von einem heranbrausenden fünfmaligen Weltmeister Lewis Hamilton im Silberpfeil in einem hochdramatischen Schlussspurt nicht aus der Ruhe bringen. Mit 0,981 Sekunden verwies Leclerc den Mercedes-Piloten und dessen Adjutanten Valtteri Bottas auf die Plätze zwei und drei. Sebastian Vettel kam im zweiten Ferrari nicht über Rang vier hinaus.
Der Ferrari-Erlöser und 108. Sieger eines Formel-1-Rennens hätte allen Grund gehabt, sich über seinen ersten Erfolg in der Königsklasse zu freuen. Aber es war ein Sieg mit Trauerflor. Was war geschehen?
Ein Sieg mit Trauerflor
Tags zuvor, am Samstag, stand das Formel-2-Rennen auf dem Programm. Kurz nach Rennstart versetzte ein schrecklicher Unfall das Fahrerlager und die PS-Szene in einen Schockzustand. In Runde zwei verlor der Franzose Anthoine Hubert nach der berüchtigten Kurve Eau-Rouge, die hoch hinaus zur „Himmelspforte" Raidillon führt, die Kontrolle über sein Fahrzeug und krachte in die Begrenzung. Sein Bolide wurde zurück auf die Strecke geschleudert und blieb quer zur Fahrtrichtung stehen. Der nachfolgende Juan Manuel Correa (20) konnte nicht mehr ausweichen, raste ungebremst mit 270 km/h in die Fahrerseite, die komplett aufgeschlitzt wurde. Der Wagen des Amerikaners überschlug sich und sein Bolide blieb kopfüber auf der Strecke liegen. Correa wurde mit schweren Beinbrüchen in ein Krankenhaus nach Lüttich geflogen. Formel-2-Neuling Hubert (22) erlag um 18.35 Uhr seinen schweren Verletzungen noch im medizinischen Zentrum an der Rennstrecke. Charles Leclerc hatte seinen Jugendfreund, den er bereits seit Kart-Zeiten kannte, verloren. „Es ist schwer, so ein Wochenende zu genießen, aber ein Traum ist wahr geworden", so der Monegasse, der seinen Triumph seinem toten Freund widmete.
Für Leclerc war es eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Vor seinem Rennen am Sonntag musste er den Tod von Anthoine Hubert verarbeiten. Eine emotionale Situation, die der junge Monegasse durchlebte. Es war nicht der erste Schicksalsschlag dieser Art für ihn. Vor vier Jahren starb sein Mentor und Patenonkel Jules Bianchi nach einem Unfall beim Großen Preis von Japan 2014, als dieser in einen Bergungskran raste. Der Franzose erlag nach neun Monaten im Koma seinen Verletzungen. Vor zwei Jahren folgte der nächste Schock: Nach langer Krankheit starb Leclercs Vater Hervé. Charles trauerte – und gewann wenige Tage später das Formel-2-Rennen in Baku in Aserbaidschan. Erstaunlich ist die mentale Stärke, die der junge Leclerc nach diesen Schicksalsschlägen entwickelt hat. Zum Tod seines Freundes Anthoine Hubert schrieb Weltmeister Lewis Hamilton sehr emotional bei Instagram: „Anthoine ist für mich ein Held, weil er dieses Risiko eingegangen ist, seinen Traum zu verwirklichen."
Von Leclercs bisherigen Leistungen zeigte sich Hamilton ziemlich beeindruckt. „Die Ergebnisse von Charles sprechen für sich." Es sei schließlich niemals einfach gegen einen viermaligen Weltmeister bei Ferrari, gemeint war Vettel, mit viel mehr Erfahrung anzutreten. Noch schwieriger sei es, diesen dann auch noch „konstant" zu schlagen, so der Fünffach-Champion Hamilton. Der WM-Führende ist sich sicher: „Wir werden noch viel Großartiges von Charles sehen." Er freue sich jedenfalls schon auf weitere Duelle mit Leclerc.
Schon mehrfach in dieser Saison hat Charles Leclerc seine fahrerische Klasse demonstriert – und den mehr als zehn Jahre älteren Teamkollegen Vettel übertrumpft. In den ersten zwölf Saisonrennen schaffte es Leclerc fünfmal aufs Podest – im 13. dann ganz nach oben. Dabei war der Premierensieg längst überfällig.
„Ein Traum ist wahr geworden"
Bereits im zweiten Rennen in Bahrain hätte Charles gewinnen müssen, wäre ihm die Defekthexe nicht in die Quere gekommen. Auch in Österreich sah er wie der sichere Sieger aus, ehe er im Schlussspurt noch vom „fliegenden Holländer" Max Verstappen im Red Bull abgefangen wurde. „Leclercs Sieg war nur eine Frage der Zeit", stellte Teamkollege Vettel neidlos fest. Während die Leistung für Außenstehende überraschend gekommen sein mag, sei es das für das Ferrari-Team keineswegs gewesen. „Im Team konnten wir sehen, dass er viel Potenzial hat, er ist ja schon länger Mitglied in der Fahrer-Akademie. Und er hatte eine starke Rookie-Saison mit Alfa-Sauber. Es ist daher gut zu sehen, dass er gleich vorn mitfahren konnte. Sein Spa-Sieg war wirklich großartig für ihn", so Sebastian Vettel.
Großartig aber war auch Leclercs Geschenk zum 90. Geburtstag des Ferrari-Traditionsrennstalls und gleichzeitig zum 90. Formel-1-Rennen in Italien. Nur eine Woche nach Belgien gingen die Leclerc-Ferrari-Festspiele weiter – mit dem neuen Popstar der Formel 1. Nach acht sieglosen Jahren hat Kronprinz Leclerc als elfter Ferrari-Fahrer den 19. Ferrari-Sieg im Ferrari-Mekka Monza eingefahren – vor den Mercedes-Piloten Bottas und Hamilton. „Ein Traum ist wahr geworden, es geht über alles hinaus, was ich mir als Kind erträumt habe, mir fehlen die Worte", so die erste Reaktion des Monza-Siegers. Teamkollege Sebastian Vettel kam nach einem peinlichen Fahrfehler, einer anschließenden Kollision und einer Zeitstrafe nur auf Rang 13. In Runde 33 wurde er sogar vom Teamkollegen überrundet. Leclerc sagte nach dem Rennen erschöpft und völlig ausgelaugt: „Wenn du einen Grand Prix mit Ferrari gewinnen musst, dann Italien." Es sei einfach „unglaublich", in Monza seinen zweiten Sieg feiern zu können. Für Sebastian Vettel wird nach dieser desaströsen Vorstellung seine Situation im Team nicht erhellender. „Ich bin in erster Linie nicht zufrieden mit meiner Leistung", stellte er wie schon in Belgien auch im roten Tollhaus Monza unmissverständlich fest. „Es ist zwar ein guter Tag fürs Team, aber nicht für mich", gesteht er frank und frei. Für den deutschen Vierfach-Champion war ausgerechnet das Ferrari-Heimrennen im Vollgas-Tempel Monza eine seiner bittersten Vorstellungen – ein Fiasko. Dass der Deutsche aber im ehrwürdigen Autodromo Nazionale di Monza siegen kann, wenn auch nicht in einem Ferrari, hat er bereits dreimal bewiesen: 2008 im Toro Rosso (Vettels erster Formel-1-Sieg), 2011 und 2013 im Red Bull. Nur in einem Ferrari ist ihm ein Sieg auch in seinem fünften Anlauf verwehrt geblieben.
„Leclerc schickt Vettel in Rente"
Umso frenetischer wird Vettels junger Stallgefährte Leclerc nach dessen Doppelsieg gefeiert, der Monaco zur 23. Nation gemacht hat, die einen siegreichen Formel-1-Fahrer stellt. Vor allem im italienischen Blätterwald überschlagen sich die Tageszeitungen förmlich mit Lob für den neuen Ferrari-Heilsbringer. So schreibt „La Stampa": „Ein Ferrari-Star ist geboren: Super-Charles hat die letzten Skeptiker überzeugt, als er die Weltmeister Hamilton und Vettel hinter sich gelassen hat." Die „Gazzetta dello Sport" stellte fest: „Charles ist freundlich, wohlerzogen und hat ein ansteckendes Lachen. Er hat sofort die Herzen des Ferrari-Teams erobert." Der „Corriere dello Sport" sieht Ferraris Zukunft gerettet: „Charles der Große". Das Team habe endlich erkannt, auf welchen Fahrer man setzen soll: „Nach 13 Grands Prix hat Ferrari begriffen, dass Leclerc der geeignete Pilot ist, um das Erbe Maranellos in die Hand zu nehmen. Vettel versinkt immer tiefer in seiner Krise." Und „La Republica" ergänzt: „Der Youngster beflügelt Ferrari. Vettel muss Leclerc den Weg frei machen. Der viermalige WM-Sieger muss sich vor dem jungen Piloten verneigen." Die spanische Zeitung „Marca" sieht Vettel sogar als Rentner: „Leclerc schickt mit seinem überragenden Monza-Sieg Vettel in Rente. Leclerc ist das neue Idol." Auch Ex-Weltmeister Nico Rosberg (2016) analysiert auf seinem Youtube-Kanal knallhart: „Es wird langsam Zeit, Leclerc zur Nummer eins zu machen und Vettel zur Nummer zwei."
Auf die Frage, ob er, Leclerc, schon titelreif sei, antwortete er entsprechend selbstbewusst: „Ich habe das Auto und das Team dafür. Wir müssen natürlich weiter arbeiten, weil uns im Vergleich zu Mercedes noch etwas fehlt. Auch ich habe viel zu lernen, aber fühle mich bereit, und das musst du auch in dieser Position."
Vor dem Nachtrennen in Singapur (RTL/Sky 14.10 Uhr) ist Hamilton seinem sechsten Titel wieder ein Stück näher gekommen. Der Weltmeister (284 Punkte) führt nun 63 Punkte vor Teamkollege Bottas (221) und 99 vor Red-Bull-Pilot Max Verstappen (185), hat 102 Zähler Vorsprung auf Senkrechtstarter Leclerc (182) und 115 vor Vettel (169). Der Deutsche konnte bereits viermal (2011 bis 2013 Red Bull, 2015 Ferrari) und Hamilton ebenfalls viermal (2009 McLaren, 2014, 2017 und 2018 Mercedes) bei bisher elf Formel-1-Rennen seit 2008 in dem Stadtstaat siegen.