Die Leichtathletik-WM in Doha (Katar) findet in diesem Jahr so spät wie noch nie statt. Doch nicht nur der ungewohnte Termin drückt auf die Stimmung, sondern auch die heißen Temperaturen und die womöglich eher kühle Atmosphäre im Stadion. Trotzdem dürfen sich die Fans auf großen Sport freuen.
So richtig konnte sich in der Leichtathletik-Szene niemand freuen, als die Weltmeisterschaften für 2019 nach Doha in Katar vergeben wurden. Eine große Leichtathletik-Tradition gibt es dort nicht, es droht eine eher unterkühlte Atmosphäre – kein Vergleich zur stimmungsvollen WM vor zwei Jahren in London. Umso heißer sollen dafür die Temperaturen werden: In Katar klettert das Thermometer auch zu dieser Jahreszeit noch auf rund 40 Grad. Zwar bietet das neu eröffnete Khalifa International Stadium eine Klimaanlage, welche die Luft auf 24 bis 28 Grad herunterkühlen soll, doch beim Training sind die Sportler der Hitze ausgeliefert. Helfen soll den Athleten eine elektronische Pille, die sie vor Hitzschlag und Austrocknung schützen kann. Die Einnahme ist allerdings freiwillig.
Besonders betroffen sind die Ausdauerdisziplinen, weshalb etwa der Marathon und die Wettbewerbe im Gehen um Mitternacht (Ortszeit) gestartet werden, wenn es sich etwas abgekühlt hat. Zwischen 2.10 Uhr (Marathon Männer) und 3.30 Uhr (50 Kilometer Gehen der Frauen) am Morgen sind die Sportler dann im Ziel. Die große Frage wird sein, wie sich diese Wettkampfzeiten auf die Stimmung entlang der Strecke auswirken.
Anstrengender als andere Jahre
Auch die ganze Veranstaltung hat in diesem Jahr einen ungewöhnlichen Termin. Anstatt wie sonst im August findet der Saisonhöhepunkt 2019 erst vom 27. September bis zum 6. Oktober statt. Die Saison war deshalb außergewöhnlich lang. „Dieses Jahr ist anstrengender als andere", meinte erst kürzlich Deutschlands schnellste Sprinterin Gina Lückenkemper. In der vergangenen Saison sei die Heim-EM in Berlin eine große Motivation gewesen, im nächsten Jahr locken dann die Olympischen Spiele in Tokio. Dieses Jahr sei sie aber einfach froh, wenn es vorbei ist, so Lückenkemper. Einige leicht angeschlagene deutsche Top-Athleten haben sich im Hinblick auf eine optimale Olympiavorbereitung sogar dazu entschieden, die Sommersaison vorzeitig zu beenden und auf eine WM-Teilnahme zu verzichten. Hochspringerin Marie-Laurence Jungfleisch, die bereits Anfang August in das vorläufige WM-Team berufen worden war, hat die Saison ebenso beendet wie Sprinterin Laura Müller, Dreispringer Max Heß und Weitsprung-Vizeeuropameister Fabian Heinle. Auch der zweimalige Weltmeister im Kugelstoßen, David Storl, konzentriert sich jetzt ganz auf Olympia 2020.
Das mit US-Sprinter Christian Coleman zwischenzeitlich auch einer der großen internationalen Stars dieser Weltmeisterschaften auszufallen drohte, hatte allerdings andere Gründe. Der Amerikaner, von vielen bereits als Nachfolger von Jamaikas Sprintlegende Usain Bolt gehandelt, führt in dieser Saison mit 9,81 Sekunden über 100 Meter die Bestenliste an, auch über 200 Meter und mit der Staffel hat er beste Medaillenchancen. Sein Start stand aber auf der Kippe, weil er innerhalb eines Jahres drei Dopingkontrollen verpasst haben soll, was normalerweise eine Sperre von bis zu zwei Jahren bedeutet hätte. Colemans Anwälte argumentierten jedoch erfolgreich, im ersten Fall begründe nicht seine Abwesenheit bei Erscheinen der Kontrolleure den Regelverstoß, sondern die lange vorher gemachte falsche Angabe des Aufenthaltsortes, der sogenannten Whereabouts. Ein solcher Fehler wird üblicherweise auf Beginn des jeweiligen Quartals zurückdatiert. So lagen zwischen den Vorfällen auf einmal mehr als zwölf Monate, weshalb das Verfahren eingestellt wurde.
Mit den Zweifeln an seiner Person wird Christian Coleman allerdings leben müssen. Und auch sportlich werden die Weltmeisterschaften für ihn keineswegs ein Selbstläufer. Vor allem über 200 Meter hat der Amerikaner große Konkurrenz durch seinen Landsmann Noah Lyles, der auf der längeren Sprintstrecke als Weltjahresbester nach Doha reist und ebenfalls Ansprüche auf den Titel des schnellsten Mannes der Welt anmeldet. Bei den Frauen ist derweil Olympiasiegerin Elaine Thompson aus Jamaika erste Anwärterin für die Rolle der Sprint-Queen.
Schnell geht es auch in den Hürdendisziplinen zur Sache, wo sogar gleich mehrfach der Weltrekord in Gefahr ist. Über 400 Meter Hürden der Frauen hat die Amerikanerin Dalilah Muhammad die Weltbestmarke in dieser Saison bereits auf 52,20 Sekunden verbessert, doch die Olympiasiegerin von 2016 kann sicher auch noch schneller laufen. „Das ist erst der Anfang", sagte sie. Gleiches gilt bei den Männern für Disziplinkollege Karsten Warholm aus Norwegen, der beim Diamond-League-Finale in Zürich jüngst Europarekord lief und mit 46,92 Sekunden nur um 14 Hundertstel am Weltrekord von Kevin Young (USA) vorbeischrammte. Und auch die Jamaikanerin Danielle Williams hat über 100 Meter Hürden die Chance, sich in Doha unsterblich zu machen: Mit einer Bestzeit von 12,32 Sekunden fehlen auch ihr nur noch zwölf Hundertstel bis zum Weltrekord.
Spannung ist im Stabhochsprung garantiert
Muhammad, Warholm und Williams gehören zu den Topstars der internationalen Leichtathletik. Zu sicher sein dürfen sie sich ihrer Sache allerdings nicht, denn in allen drei Disziplinen ist die Konkurrenz nicht allzu weit entfernt. In anderen Disziplinen scheint die Goldmedaille für die Favoriten dagegen nur Formsache zu sein, so sehr dominieren sie derzeit das Geschehen. Das gilt beispielsweise im Hochsprung für die unter neutraler Flagge startende Russin Mariya Lassizkene, im Kugelstoßen für die Chinesin Gong Lijiao, im Dreisprung der Frauen für Yulimar Rojas aus Venezuela sowie im Weitsprung der Männer für den Kubaner Juan Miguel Echevarría. Hochspannung ist dagegen im Stabhochsprung garantiert: Dort liegen mit Sam Kendricks (USA/6,06 Meter), Piotr Lisek (Polen/6,02) und Armand Duplantis (Schweden/6,00) drei Springer auf Augenhöhe, die in dieser Saison alle bereits die magische Sechs-Meter-Marke übersprungen haben. Ähnlich eng geht es bei den Kugelstoßern zu, bei denen in diesem Sommer schon sieben Athleten weiter als 22 Meter kamen. Der Amerikaner Ryan Crouser hat mit 22,74 Metern derzeit die Führung in der Weltbestenliste inne.
Völlig offen ist auch der Ausgang im Speerwurf. In den vergangenen Jahren dominierten dort die einheimischen Werfer – bei den vergangenen Welt- und Europameisterschaften sowie den Olympischen Spielen 2016 landete jeweils ein Deutscher ganz vorn. Mit Magnus Kirt aus Estland, der 2019 als einziger die 90 Meter übertroffen hat, gibt es dieses Mal aber starke Konkurrenz für das DLV-Quartett mit Titelverteidiger Johannes Vetter, Thomas Röhler, Andreas Hofmann und Bernhard Seifert. Eine Medaille ist aber allen vieren absolut zuzutrauen – sollte Deutschland in seiner Paradedisziplin leer ausgehen, wäre das umgekehrt eine große Enttäuschung. Auch von Weitspringerin Malaika Mihambo wird nicht weniger als der Titel erwartet, nachdem sie in diesem Jahr gleich reihenweise Sieben-Meter-Weiten abgeliefert hat. Mihambo schaffte auch über 100 Meter die WM-Norm, wird sich in Doha aber ganz auf ihre Paradedisziplin konzentrieren. „Ich möchte diese Position, die ich mir jetzt erarbeitet habe, nicht durch eine andere Aktion gefährden, die zwar reizvoll wäre, aber nicht unbedingt zielführend", sagte sie.
Ebenfalls um die Medaillen kämpfen Speerwurf-Europameisterin Christin Hussong, Hochsprung-Europameister Mateusz Przybylko, die Diskuswerferinnen, Zehn- und Siebenkämpfer sowie Geher Christopher Linke. Über 5.000 Meter spekuliert Konstanze Klosterhalfen auf Edelmetall, die seit ihrem Wechsel in die USA an das Trainingszentrum von Nike auch taktisch enorme Fortschritte gemacht hat. Hindernis-Europameisterin Gesa Felicitas Krause scheint ebenfalls in Form für die WM: Beim Istaf in Berlin lief sie unlängst über 2.000 Meter Hindernis so schnell wie keine andere Frau vor ihr. „Jetzt muss ich nur gesund bleiben, dann ist in Doha viel möglich. Ich bin hochmotiviert und will bei der Medaillenvergabe ein Wörtchen mitreden." Bereits 2015 bei der Weltmeisterschaft in Peking (China) hatte Krause überraschend Bronze gewonnen. Eine gelungene Generalprobe für die WM feierten beim Istaf auch die deutschen Sprinterinnen: Die 4x100-Meter-Staffel mit Lisa-Marie Kwayie, Yasmin Kwadwo, Tatjana Pinto und Gina Lückenkemper rannte in 41,67 Sekunden Weltjahresbestleistung, obwohl die Wechsel nach Aussage Pintos noch längst nicht ausgereizt waren. Ein Auftritt, der trotz aller Umstände dann doch mächtig Lust auf Doha macht.