Prof. Dr. Friedrich Hainbuch studierte unter anderem Sportwissenschaften und Medizinische Wissenschaften und gilt als Experte für Progressive Muskelentspannung. Im Interview spricht er über Muskelverspannungen, Einsatzgebiete, verschiedene Techniken und gibt Tipps für Übungen.
Herr Dr. Hainbuch, wie kamen Sie dazu, sich eingehend mit Progressiver Muskelentspannung zu beschäftigen?
Im Rahmen meines Sportstudiums waren in einem Semester Entspannungsmöglichkeiten Thema eines Seminars. Dort wurde unter anderem die Progressive Muskelentspannung behandelt, über welche ich dann ein Referat geschrieben habe. Und diese Tatsache brachte mir dann im Jahr 2001 eine Anfrage des GU-Verlages ein. Zudem war ich kurz vorher in Kur gewesen und habe selbst dort einen dreiwöchigen Muskelentspannungskurs mitgemacht.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang „progressiv"?
Gemeint ist hier die fortschreitende körperliche Muskelentspannung, an den Händen und Armen beginnend, dann zum Kopf, Hals, Schultern/Nacken bis zu den Zehenspitzen verlaufend.
Warum verspannen sich Muskeln?
Das kann ganz unterschiedliche Auslöser haben. Unter anderem sind dies Stress und Angst: Gefühle oder Schmerzen verändern den Muskeltonus und führen zu Verspannungen. Auch ständige, dauerhafte Fehlhaltungen beziehungsweise einseitige Belastungen, Überanstrengungen und Verletzungen oder auch Magnesiummangel sind Gründe.
Ist Progressive Muskelentspannung nur zur Entspannung geeignet oder können dadurch auch Erkrankungen verbessert werden?
Man kann Progressive Muskelentspannung einsetzen bei Schlafstörungen, zur Verbesserung der allgemeinen Stressverträglichkeit, Krankheitsprävention, Verbesserung der eigenen Immunabwehr, allgemeinen Schmerzlinderung (zum Beispiel bei Kopfschmerzen), bei vielen Lungenerkrankungen, depressiven Verstimmungen, Migräne, innerer Unruhe, psychosomatischen Störungen wie Stottern, Zähneknirschen, Begleitung bei der Krebstherapie oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Wie ist die Studienlage dazu?
Es existieren viele Studien, nach denen Progressive Muskelentspannung einen positiven Einfluss auf das psychische Befinden hat. Unter anderem wurden positive Effekte der progressiven Entspannungsübungen auf Ermüdung und Schlafqualität bei Patienten mit chronischer Lungenerkrankung (COPD) und Multipler Sklerose und die Reduzierung von Nebenwirkungen der Chemotherapie sowie die Verbesserung der Lebensqualität bei Patienten mit Brustkrebs belegt. Nach einer Studie von 2015 zeigen Diazepam und progressive Muskelentspannung nach Jacobson ähnliche Wirkung in Bezug auf die Dämpfung der kurzfristigen Auswirkungen von stressbedingtem Gehirnstoffwechsel.
Welche verschiedenen Techniken gibt es?
Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, autogenes Training, Meditation, Atemübungen (konzentrierte Bauchatmung), Bewegung wie Ausdauertraining, Yoga, Pilates, Tai-Chi, Qigong, Sauna, Entspannungsmusik, Massage, Traumreise, Lächeln und einzelne Entspannungsübungen wie Körper strecken und schütteln.
Was genau benötigt man für die Übungen?
Auf jeden Fall Ruhe, einen wohlriechenden, beruhigend ausgestatteten und wohltemperierten Raum ohne jede Störung, eine bequeme Liegefläche mit Unterlage, vielleicht nur Kerzenschein, jedenfalls eine heimelige Atmosphäre, in der man ganz bei sich und nur für sich sein kann, möglichst ohne störende Außengeräusche.
Wie oft und wie lange sollte man die Technik anwenden?
Täglich, ein Leben lang.
Was sollte man bei der Atmung beachten?
Auf keinen Fall sollte man die Atmung anhalten oder gar zur Pressatmung neigen. Diese würde möglicherweise gar den Blutdruck erhöhen.
Können Sie Beispiele für Übungen nennen?
Jeweils nacheinander: Faust machen, Augen fest zukneifen, Nase rümpfen, Schultern nach hinten und gleichzeitig etwas nach unten ziehen, den Bauch weit herausdrücken, Füße beugen oder anspannen, jeweils Anspannung fünf bis sieben Sekunden halten, entspannen.
Wie unterscheiden sich zum Beispiel Übungen gegen Kopfschmerzen und gegen Schlafstörungen?
Gegen Kopfschmerzen: Richten Sie die Wahrnehmung auf Ihr Gesicht. Den Unterkiefer entspannt und locker lassen, dann die Zunge fest gegen den Gaumen drücken. Gleichzeitig Lippen aufeinanderpressen, die Nase rümpfen und die Augen zusammenkneifen. Nach fünf Sekunden die Anspannung wieder lösen; den Kopf etwas einziehen und den Hinterkopf fünf Sekunden gegen den Boden drücken. Danach entspannen. Nehmen Sie nun ganz bewusst wahr, wie die Schultern auf dem Boden aufliegen; dann die Schultern anspannen und in Richtung Ohren ziehen. Fünf Sekunden halten und wieder lockerlassen. Gegen Schlafstörungen sollten von Kopf bis Fuß alle Übungen der Progressiven Muskelentspannung absolviert werden, da nur das komplette System der Muskelentspannung bei Schlafstörungen hilft.