Tausende DDR-Bürger hatten sich im Spätsommer 1989 auf das Gelände der Botschaft der BRD in Prag geflüchtet, es herrschten prekäre Zustände. Am 30. September 1989 durften sie in den Westen ausreisen. Zwölf Worte von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher läuteten das Ende der DDR ein.
Es war der berühmteste Halbsatz der deutschen Geschichte. Am Abend des 30. September 1989 trat der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der deutschen Botschaft in Prag im Palais Lobkowitz, um den Tausenden DDR-Flüchtlingen auf dem Gelände die frohe Botschaft zu überbringen: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …" Der Rest war schon nicht mehr zu verstehen, seine anschließenden Worte „… möglich geworden ist" gingen im Jubel der Menschen unter. Da war es 18.58 Uhr – bereits eine halbe Stunde später würden die ersten von ihnen das Gelände verlassen, um kurz vor 21 Uhr saßen sie im Sonderzug in Richtung Westen. Am nächsten Morgen erreichten sie im fränkischen Hof die Bundesrepublik. „Wir wurden empfangen, als hätten wir die Fußball-WM gewonnen", berichtete Christian Bürger in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der damals in der Botschaft als Verbindungsmann aufseiten der Flüchtlinge deren Unterbringung mitorganisiert hatte.
Der Chemnitzer hatte die DDR eigentlich schon früher verlassen wollen. Zusammen mit Freunden wollte er 1986 in den Westen fliehen, wurde jedoch verraten und verhaftet. Auch nach seiner Freilassung fühlte er sich in seinen Freiheiten weiterhin massiv eingeschränkt. Anfang 1989 hörte er das erste Mal von DDR-Bürgern, die durch eine Flucht in die Prager Botschaft der Bundesrepublik ihre Ausreise erzwungen hatten. Diese Methode war nicht neu: „Einzelne DDR-Flüchtlinge hat es in Prag immer gegeben", erinnerte sich der damalige Botschafter Hermann Huber. Es wurde allerdings nicht groß darüber gesprochen, auch weil die Zahlen überschaubar blieben. Für die meisten Flüchtlinge handelte das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen die Zusage aus, dass ihr Ausreiseantrag nach einer Rückkehr in die DDR bewilligt werden würde.
Im Spätsommer 1989 spitzte sich die Situation jedoch dramatisch zu. Nicht nur stieg die Zahl der Botschaftsflüchtlinge sprunghaft an. Die wenigsten von ihnen waren jetzt noch bereit, sich auf eine Rückkehr in die DDR einzulassen, weil sie der ostdeutschen Führung misstrauten. Stattdessen wollten sie direkt in den Westen ausreisen. Und sie waren bereit, so lange auf dem Gelände auszuharren, bis ihre Forderung erfüllt wurde. Viele von ihnen hatten ihre Wohnungsschlüssel an einen Baum gehängt: als klarer Ausdruck dessen, dass sie nie wieder zurück wollten.
Mehr als 4.000 Menschen
Im September 1989 befanden sich auf dem Gelände zeitweise mehr als 4.000 Flüchtlinge. Es waren so viele, dass Christian Bürger und seine Helfer irgendwann mit der Registrierung nicht mehr hinterherkamen. 150 Menschen teilten sich in drei Schichten ein Zelt, das eigentlich für 25 Personen gedacht war; andere schliefen im Heizungskeller oder im Treppenhaus, immer zwei Personen auf einer Stufe. Viele nächtigten auch einfach im Freien. An einen geregelten Botschaftsbetrieb war kaum noch zu denken; längst war deshalb die Konsularabteilung der Botschaft in ein Prager Hotel verlegt worden. Auch in anderen westdeutschen Botschaften hatten DDR-Bürger Schutz gesucht, in Budapest und Warschau, doch nirgendwo waren es so viele wie in Prag. Denn für die Tschechoslowakei brauchten die DDR-Bürger kein Visum. Sie konnten die Grenze ins Nachbarland einfach mit ihrem Personalausweis passieren und mit dem Auto oder dem Zug einreisen.
Die Versorgung all dieser Menschen bedeutete für das Botschaftspersonal eine große Herausforderung. Anfangs kauften die Mitarbeiter die Lebensmittel noch vor Ort ein, doch bald reichte das nicht mehr aus. Deshalb fuhr der Botschaftsbus bald täglich nach Furth im Wald in der Oberpfalz, um Essen, Spielsachen und Sportgeräte heranzuschaffen. Organisiert wurde die Aktion von Botschafter Hermann Huber, „der mit seiner französischen Frau in seiner wunderbaren menschlichen Art zu einem wirklichen Herbergsvater für Tausende deutscher Mitbürger geworden war", wie es Außenminister Hans-Dietrich Genscher später ausdrückte. Hubers Frau organisierte in all dem Chaos sogar Schultüten für die Kinder. Als irgendwann auch die tägliche Bustour nicht mehr genügte, setzte die Bundeswehr dann sogar Lastwagen ein, die direkt nach Prag fuhren – mit Duldung der tschechoslowakischen Behörden. Hätten diese die Grenze dicht gemacht, hätte die Botschaft geräumt werden müssen.
Allerdings war die Lage auch so angespannt. Es fehlte an sanitären Anlagen, stundenlang standen die Menschen vor den Toiletten. Überall türmte sich der Müll, und durch die anhaltenden Regenfälle verwandelte sich das Gelände in eine Schlammwüste. Die Leute litten an Grippe und Durchfall, zeitweise machte sogar das Gerücht die Runde, dass die Ruhr ausgebrochen sei. Die Atmosphäre war aufgeladen, der Umgangston teils rüde. Hinzu kam die ständige Angst vor DDR-Spitzeln der Staatssicherheit. „Die Stimmung stand Spitz auf Knopf", schilderte Christian Bürger in der „FAZ".
Unmenschliche Bedingungen
Die Politik musste reagieren. „Langsam wurde uns in der Botschaft klar, dass es nicht mehr darum gehe, wie wir verhindern konnten, dass die Botschaft überquelle, sondern dass gerade der durch den Zustrom der Flüchtlinge erzeugte Überdruck ein sehr viel größeres geschichtliches Rad in Bewegung setzen könnte", schrieb Hermann Huber in seinen Erinnerungen. Gegen den Rat seines Arztes und trotz akuter Herzprobleme reiste Hans-Dietrich Genscher nach New York, um am Rande der UN-Vollversammlung mit seinen Außenministerkollegen Oskar Fischer (DDR), Eduard Schewardnadse (Sowjetunion) und Jaromír Johanes (CSSR) zu verhandeln. Letztlich konnte er Schewardnadse überzeugen, einer Ausreise der Botschaftsflüchtlinge zuzustimmen – die DDR musste sich fügen. Vor allem die missliche Lage der vielen Kinder in der Prager Botschaft soll am Ende den Ausschlag gegeben haben.
Am 30. September 1989 überbrachte Genscher die frohe Kunde höchstpersönlich. Journalisten mussten draußen bleiben, deshalb gibt es von der Balkonrede nur einige wenige, dunkle Bilder. „Mir ging es allein darum, den Gegnern der Lösung in Ostberlin jedes Argument, wie das großer Publizität, zu nehmen", erklärte Genscher gegenüber der „Zeit". Nach dem ersten Jubel schlug die Stimmung allerdings kurzzeitig um, als der Minister den Menschen eröffnete, dass der Zug in den Westen unterwegs das Gebiet der DDR passieren würde – eine Forderung der DDR, um so den Anschein einer regulären Ausreise zu wahren. Viele der Geflüchteten hatten nun Angst, dass die DDR-Führung die Züge unterwegs anhalten würde. Doch Genscher beruhigte sie: „Ich kann Sie gut verstehen, aber ich übernehme die persönliche Bürgschaft, dass Ihnen nichts geschehen wird."
Genscher bezeichnete diese Momente später als „die bewegendsten Stunden in meiner gesamten politischen Arbeit". Er ahnte wohl schon, dass die Episode noch weitreichende Folgen haben würde. „Es wird tiefe Wirkungen haben, es wird den Widersinn der Mauer noch stärker ins Bewusstsein der Menschen bringen. Das wird die Mauer nicht lange überleben lassen", sinnierte Genscher noch am selben Abend. Zumal wenige Tage später noch einmal Tausende DDR-Flüchtlinge das Botschaftsgelände besetzten, dieses Mal sogar 7.600 Personen, die ebenfalls ausreisen durften.
Mauer fiel fünf Wochen später
Zwar führte die DDR-Führung danach kurzzeitig eine Visumspflicht für Reisen in die Tschechoslowakei ein. Doch nachdem diese am 1. November 1989 wieder aufgehoben wurde, versammelten sich erneut mehr als 5.000 Menschen in der Botschaft. Zwei Tage später verkündete der stellvertretende Außenminister der CSSR, dass sie ohne DDR-Genehmigung direkt von Prag in die Bundesrepublik ausreisen könnten. Die Ausreiseregelung machte den Eisernen Vorhang obsolet, täglich stiegen Tausende DDR-Bürger in den Zug nach Prag, um von dort direkt weiter in den Westen zu reisen. Schon am 9. November fiel die Berliner Mauer. Ohne die Ereignisse in Prag wäre es womöglich nicht oder zumindest nicht so schnell dazu gekommen. Genscher: „Ja, es war der entscheidende Schlag gegen die Mauer. Die Flüchtlinge, die nichts anderes wollten, als leben zu können, wie es ihren Vorstellungen entspricht, hatten es bewirkt."