Das „Lausebengel" schickt sich an, mit runderneuerter Berliner Küche und Handwerksbieren nicht nur für den Kiez zur Anlaufstelle zu werden. Wo sonst als mitten in Kreuzberg könnte die kulinarische „Berlinification" für Zugezogene und selbst für Eingeborene stilechter stattfinden?
Wussten Sie schon, dass an der Grimmstraße der Senfei-Gebirgszug steht? Auf einer 20 Zentimeter langen Sauerteig-Roggenbrotscheibe zieht er sich hügelig, saucenbekrönt und von einem Röstzwiebelkringel-Feld durchbrochen über den Teller. Vom Kartoffelsalat-Basislager aus erkunden wir den kulinarischen Viertausender der Berliner Küche: Kräftige Tunke mit Senfkörnern und hartgekochte Eier, die abgetragen werden wollen. Wir mischen Gelb und Weiß mit Röstzwiebel-Schnörkeln, Schnittlauchröllchen und Brot. Gabeln den Kartoffelsalat extra oder mit Senfsauce kombiniert. So ein Gericht wie die Senfei-Stulle lässt dem eingeborenen Berliner und so manch Zugezogenem im „Lausebengel" ein „Oh, toll, wie früher!" entfleuchen. Und für die philippinische Begleiterin ist es der Startpunkt für die endgültige kulinarische „Berlinification" auch mit Blutwurstkroketten, Sauerkraut und Kebap.
Damit der Streifzug durch die Berliner Küche nicht in eine riskante Gratwanderung ausartet, holten sich Janosch Thomsen, Teh Anh Nguyen und Tim Gräsing, die Betreiber des Kreuzberger Lokals, einen weiteren umtriebigen Berliner „Bengel" als kulinarischen Konzepter dazu. Kristof Mulack, Mitgründer des „Tisk" und Gastronomieberater, brachte so manches aus der Neuköllner Speisekneipe bewährte Gericht in den Dieffenbachkiez mit und arbeitete es für die „Lausebengel"-Küche weiter um und aus. „Kristof und ich sind in der Stadt aufgewachsen", sagt Janosch Thomsen. „Wir wollen im ‚Lausebengel‘ Berliner Küche machen, wie wir sie kennen." Also „Kassler Kebap", Hummus-Stulle oder vegetarische Soljanka. „Wir hatten türkische, arabische und vietnamesische Freunde in unserer Jugend", sagt Thomsen. „Dabei kommt dann ein etwas anderer Kreuzberg-Style heraus." Aber auch die Lieblingsgerichte im Oma-Style waren optimierungsbedürftig: „Man muss viel dafür tun, dass die Berliner Küche wirklich gut wird", sagt Janosch Thomsen. Das allzu Deftige entgröbern und verfeinern; Tüte, Glas und Dose durch frische Produkte ersetzen und eigene, zeitgemäße Akzente einbringen. Das Wohlgefühl einer vertrauten Küche transportieren, ohne sich museal an vermeintlich festgeschriebene Rezepte zu klammern.
Dass das im Alltagsbetrieb gelingt, dafür sorgt Alejandra Cuevas. „Fotografiert die Stullen von dieser Seite aus, da sehen sie noch besser aus", weist die Küchenchefin beim Heraustragen der Senfei- und „Unjerollter Mops"-Brote den Fotografen an. Dass es bloß nicht allzu lange dauert! „Und jetzt essen, sonst wird das Brot matschig!", lautet die energische Ansage kurz darauf. Recht hat sie. Der Mops wurde nicht gewickelt, sondern frei auf die Stulle drapiert und mit Apfelhack, Gurke, Dill und Zwiebelstreifen ergänzt. Im „Lausebengel" mopst sich der Hering nicht säuerlich eingelegt, sondern kommt in Gestalt eines gesalzenen MSC-Filets daher. Das passt besser zum Brotgeschmack. Säure ist nicht wie beim Fingerfood-Rollmops extra nötig, sondern wird durch Kraut, Frucht und Gemüse drumherum transportiert. Wir sind schließlich nicht in einer Altberliner Pinte mit „Hungerturm" – einer mehrstöckigen Glasvitrine auf dem Tresen für deftige Bierbegleithappen auf die Hand wie Bulette, Schmalzbrot, Solei oder Rollmops – gelandet. In einer waschechten Eckkneipe allerdings schon.
Preise volkstümlich geblieben
35 Jahre lang war an der Grimm-Ecke Dieffenbachstraße das „Rizz" beheimatet – Szenekneipe, Wohnzimmer und Stammlokal für viele, die in den 80ern nach Kreuzberg zogen und blieben. Der „Rizz"-Pächter pensionierte sich zum Jahresende 2018. Die Eigentümerin der Immobilie hatte den Blick darauf, dass ein neues Konzept zum Kiez passte. Das Betreibertrio hörte zunächst Anfeindungen mit dem „bösen G-Wort" Gentrifizierung, konnte aber mit einem Schreiben an der Eingangstür, einem Briefkasten und offenen Ohren während der sechsmonatigen Umbauarbeiten klarmachen, dass die Wünsche der Nachbarn gern gehört würden. „Ich bin nur ein paar Häuser weiter aufgewachsen, hier in die Schule gegangen und hab’ auf dem Spielplatz da gespielt", sagt Janosch Thomsen und zeigt auf den Mittelstreifen der Grimmstraße.
Wir sitzen vor der spätabendlichen Abkühlung noch auf der Bürgersteig-Terrasse und zischen unser erstes Bierchen. In diesem Fall ist das bei der Begleiterin und mir eine Gose von „Brło", ein obergäriges Weizenbier, das mit Quitte, Cranberries, pinkem Pfeffer und Salz gebraut wurde. „Der Name ist vom Ursprungsort Goslar abgeleitet", verrät uns Mitchel Wollschläger vom Service. Fancy? Ja, aber genau deshalb einen Versuch wert. Wir werden mit leichter, fruchtig angedeuteter Trinkigkeit und einem Salzhauch angenehmst überrascht. Es darf aber auch mit einem Feldschlösschen Pils, einem Aktien Zwick’l Kellerbier oder einem Berliner Berg Lager weniger exotisch im Glas zugehen. Bier ist das zweite Standbein im „Lausebengel". Zehn Sorten sind ständig am Hahn. Die beiden lokalen „Brło-Biere" wie die Gose oder eine „mit 1.200 Kilo Wassermelone gebraute Melonen-Weiße", wie Mitchel Wollschläger verrät, wechseln regelmäßig. „Wir sind keine nerdy Bierbar", sagt Janosch Thomsen. Obwohl ausgewählt bezogen und handwerklich hergestellt, passe die Bezeichnung „Biervielfalt" besser, so wie sie aus dem „B" des Schriftzugs des Lokals herauspurzelt. Um die kümmert sich Tim Gräsing als Biersommelier im Team, der Nerds in spe ab Oktober sein versammeltes Wissen in eineinhalbstündigen Tastings zugänglich machen will.
Viel war nach 35 Jahren zu renovieren, vor allem die Elektrik und Küchentechnik. Doch die Grundanmutung des Lokals blieb erhalten – Stichwort „Upcycling". Der Tresen wurde heller gestrichen, die altbekannte Holzfront ist immer noch da. Das Podest im hinteren Bereich wurde herausgenommen, die Umrisse auf dem erhaltenen Stäbchenparkett sind aber weiterhin erkennbar. Die Küche ist nun in den oberen Raum hinein geöffnet und vorgezogen. Die Gäste sehen, was mit ihrem Essen und beim Anrichten geschieht, können mit der Küchencrew direkt sprechen. Obwohl es weiterhin dunkle Stühle und Tische, viel Holz und die lange Ziegelwand gibt, wirkt der Erdgeschossraum erheblich heller und luftiger. Dazu trägt nicht zuletzt ein großes, türkisfarbenes Wandbild bei. Allein die Großleinwand wurde abgebaut; die Zeiten der Sportübertragungen sind passé.
Das „Kassler Kebap" ist der absolute Kracher
Man ist doch eher Bistro-Restaurant als Kneipe. Die Preise blieben aber auch auf dem neuen Qualitätslevel volkstümlich: Die Happen kosten 2,90 bis 3,90 Euro. Eine ziemlich sättigende Stulle ist für 7,50 bis 8,50 Euro und ein Hauptgericht für 6,50 bis 13,90 Euro zu haben. Ein 0,3er Bier kostet 2,80 bis 4,20 Euro. Statt Fußball zu gucken, könnte es sich also lohnen, sich miteinander etwa über die „Happen" zu unterhalten, die in der „Vorrunde" in Gläsern serviert werden. Wir probierten Sellerie-Stäbchen mit hausgemachter Remoulade, Berliner Knacker, Kartoffelsalat, Ziegenkäse mit Rotkohl-Salat und Blutwurst-Kroketten mit geräuchertem Apfelmus. Bei den Würsten spielt ein bewährter Berliner Partner mit: Die aromatische, in der Schlachterei in Neukölln hergestellte Blutwurst sowie die in Krakauer-Manier gefertigten groben, saftig-würzigen Knacker stammen aus der „Blutwurstmanufaktur" von Metzgermeister Marcus Benser. In den Gläschen finden sich beinah sämtliche Gerichte als Kleinausgabe nach Tapas-Art wieder. Die Senfeier oder die Blutwurst-Kroketten etwa gibt es ebenfalls in größer „auf Stulle" oder die Fischstäbchen in noch ausgewachsenerer Ausführung als Hauptgericht auf dem Teller. Köstlich!
Die Begleiterin ist mit genau diesem zu Fischstäbchen gewordenen Kabeljau mit „Kartoffelpü", Erbsen und Remoulade sehr froh. Glücklich machendes Kinderessen auch für Erwachsene, die mit „Adobo Pork" aufgewachsen sind! Der ganze eichblättrige Kopfsalat mit Kapern, Salzzitronen-Zesten und Petersilie kann als eigenständiges Gericht bestehen, funktioniert aber auch als grüne Ergänzung zum Teilen prima. Eine vegetarische Soljanka vereint einen mit säuerlichen Paprikanoten zur Suppe gewordenen Pusztasalat mit Spreewaldgurken, Sauerrahm und Dill. Veggies finden immer ihre Gerichte; Veganer kehren allerdings lieber andernorts ein. Nicht zuletzt an so etwas Eigenständigem wie dem mit Bröseln und Blättern gekochtem Ei und Dill angemachten Blumenkohl polnischer Art werden Gemüsefreunde Gefallen finden. Der Knaller ist allerdings so was von non-veggie und kommt in einer geradezu unauffälligen Brottasche in Papiermanschette daher. Et voilà: das überragende „Lausebengel"-„Kassler Kebap". Wer die röschen Pökelfleischschnitze unter roten Zwiebeln, Sauerkraut, selbstredend hausgemachter Kräuter- und Senfsauce verzehrt hat, der weiß, warum er anschließend niemanden sonst anstelle einer mitessenden Begleitung küssen sollte. Die „Berlinification" der Begleiterin kann nach einem Besuch im „Lausebengel" jedenfalls als vollendet bezeichnet werden. Und die „Berlinifizierung" der länger hier lebenden Autorin und des Fotografen hat ebenfalls eine qualitätvolle, unkomplizierte und spaßbetonte Auffrischung erfahren.