In jungen Jahren kommt Fidi Baum zum Hip-Hop. Rap hilft dem körperlich beeinträchtigten Berliner dabei, sich selbst zu finden. Mittlerweile ist der Inklusionsbotschafter selbst ein erfolgreicher Rapper und hilft mit seiner Musik anderen.
Auf seinem Wohnzimmertisch liegt ein Buch von Harald Welzer: Alles könnte anders sein – eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. „Das ist sozusagen meine Abendlektüre." Fidi ist Welzer-Fan und das seit Jahren. Zwei Bücher des deutschen Sozialpsychologen hat er bereits verschlungen. Jetzt ist das dritte an der Reihe. Für den Berliner Rapper ein weiterer Schritt in ein bewussteres Leben. „Viele unserer Entscheidungen sind von Unwissenheit geprägt", davon ist er überzeugt. Dabei könnte schon eine kleine Gruppe von Menschen ausreichen, um einen großen gesellschaftlichen Umbruch zu starten. „Welzer spricht dabei von fünf Prozent", zitiert Fidi den Autor. Wenn nur fünf Prozent der Menschen sich dazu entscheiden würde, ihr Verhalten zu ändern, würde der Rest der Gesellschaft einfach nachziehen. „So war es beispielsweise bei der Einführung der Gurtpflicht für Autoinsassen in den 70er-Jahren: Als die Verordnung herauskam, waren erst mal alle dagegen. Und jetzt? Jetzt spricht keiner mehr über die Anschnallpflicht. Sie ist zur Normalität geworden."
Fidi hilft den Menschen dabei, weiterzumachen
So war es auch im Jahr 2011, als Hans-Friedrich Baum, genannt Fidi, zum ersten Mal als Student die Evangelische Hochschule in Berlin besuchte. Harald Welzer kannte Fidi damals nur vom Hören. Auch die Fünf-Prozent-Theorie war dem Berliner zu diesem Zeitpunkt noch nicht geläufig. Alle diese Erkenntnisse lagen noch in ferner Zukunft. Dafür besaß der junge Student eine gute Beobachtungsgabe und Empathie für die Bedürfnisse anderer. Vor allem, wenn es sich um körperliche Einschränkungen handelte. Denn Fidi ist selbst behindert, lebt mit einer Spastik und hat nur einen Finger an der rechten Hand. „Kurze Strecken schaffe ich zu Fuß", erzählt der mittlerweile studierte Sozialarbeiter und Inklusionsbotschafter. „Nur bei großen Entfernungen, da muss ich wirklich zum Rolli greifen." Auch an seinem ersten Tag an der Uni ist Fidi mit dem Rollstuhl unterwegs. Richtung Audimax, zu seiner ersten Vorlesung. Als er an der langen Treppe – dem einzigen Eingang zum Gebäude – ankommt, schwindet der anfängliche Enthusiasmus. „Ich musste absteigen und einen vorbeigehenden Kommilitonen um Hilfe bitten, meinen Rollstuhl hochzutragen", erinnert sich Fidi an den schicksalshaften Tag. „Das war natürlich alles andere als angenehm", gibt der Rapper offen zu. „Aber noch machbar." Eine seiner Kommilitoninnen hatte es dagegen wesentlich schwerer: Vier junge Studenten mussten ihren Rollstuhl damals anheben, um sie zum Vorlesungssaal zu tragen. „Nach oben und dann wieder nach unten. Und das jedes Mal, wenn sie zum Audimax mussten." Fidi sprach die Behindertenbeauftragten der Hochschule darauf an und erntete eine überraschende Antwort. „Der Denkmalschutz-Status des Gebäudes sei daran schuld. Damit erklärten sie dann die Situation. Es war also keine Veränderung in Sicht." Auch unter seinen Kommilitonen gab es wenig Hoffnung. „Lass es einfach", riet ihm eine körperlich eingeschränkte Mitstudentin, „du kämpfst gegen Windmühlen." Das gab dem jungen Mann zu denken und er antwortete mit einem Song. Es war kein bewusster Inklusionsappell oder eine geplante musikalische Ansprache, stellt Fidi klar. Vielmehr kreisten seine Gedanken um das Thema Barrierefreiheit. „Ich hatte einfach so viele Reime im Kopf, dass ich sie in einen Rap-Text gepackt habe." Dass er damit ein Umdenken anstoßen würde, wusste der junge Rapper zu diesem Zeitpunkt nicht. Doch genau das traf mit der Veröffentlichung ein: Innerhalb weniger Tage wird sein Track „EHBarrierefrei" tausendfach angeklickt, geliked und geteilt. Auch der Uni-Kanzler schaut sich das Rap-Video an und lädt Fidi daraufhin zum Gespräch ein. „So wurde ich dann zum Berater für Barrierefreiheit unserer Universität." Fidi nahm an Gremiensitzungen teil, diskutierte über die möglichen Verbesserungen auf dem Campus. „Im fünften Semester weihten wir dann unseren ersten Fahrstuhl auf dem Unigelände ein", erzählt er stolz. „Das war schon ein tolles Gefühl." Diese Erfahrung prägte Fidi gleich doppelt. „Zum einen konnte ich mich wesentlich einfacher auf dem Campus bewegen und zum anderen erkannte ich auch, dass ich mit meiner Musik wesentlich mehr ausdrücken kann, als mich nur als Rapper zu positionieren", sagt Fidi. „Ich konnte tatsächlich etwas verändern, einen gesellschaftlichen Mehrwert herbeiführen." Und damit auch anderen Menschen ein Stück weit helfen.
Das bekommt Fidi immer wieder in seinen Fan-Briefen zu lesen: dass er den Menschen mit Behinderungen Mut macht, weiterzumachen. „Vor allem von Frauen", erzählt er mit einem Augenzwinkern. „Sie schreiben sehr persönliche, emotionale Briefe." Was genau in den Zuschriften steht, möchte der Künstler nicht sagen. „Das bleibt privat." Die Gefühle, die in den Briefen zum Ausdruck kommen, macht der wortgewandte Musiker dagegen oft zum Thema seiner Tracks. „Sie fühlen sich ausgegrenzt, diskriminiert und nicht an der Gesellschaft beteiligt", schildert er das Problem einiger seiner Hörer. „Also alles, was ich selbst erlebt und gefühlt habe. Deswegen kann ich diese Menschen auch so gut verstehen. Auch ich durchlebte schwierige Phasen, aus denen ich mich nur mithilfe von Musik befreien konnte."
Vorbildfunktion ohne Pathos
Dabei spielt der Rapper auf seine Kindheit an. „Ich war nicht immer so selbstbewusst wie heute." Besonders in der Grundschule ging es Fidi ziemlich dreckig. „Aufgrund meiner äußeren Erscheinung wurde ich oft gehänselt und beschimpft." Die Kinder schrien „Spasti", äfften ihn mit seinem langsamen, schwankenden Gang nach. „An manchen Tagen hatte ich eine solche Wut auf die Menschen. Ich habe die Kinder um mich herum regelrecht gehasst." Doch in diesem Gefühl versinken wollte er nicht. „Hass ist sowieso etwas ganz Hinderliches", weiß der Rapper. „Er macht dich blind." Hip-Hop wird für Fidi zu einem Ventil. Sein bester Freund Jakob bringt ihm diesen Musikstil näher. Später wird Jakob ihm auch seinen Rapper-Namen „Graf Fidi" verpassen, unter dem der Künstler bis heute seine Tracks veröffentlicht. „Wie man sieht, hatte Jakob schon einen immens großen Einfluss auf mich", erzählt Fidi und lächelt. Seine erste gekaufte Platte ist noch englischsprachig: „Mobb Deep mit Infamous", schwärmt Fidi und blickt dabei auf die mit Plattencovern gepflasterte Wand im Wohnzimmer. Zwischen all den auf die Wand gepinnten Alben darf seine Lieblingsband natürlich nicht fehlen. Dann taucht der Nachwuchsrapper in die Welt des deutschen Hip-Hops ein. „Mit den Fantastischen Vier begann dann auch meine Passion für den deutschsprachigen Rap." Mit dem Wechsel der Schule – Fidi kommt in eine Inklusionsklasse – hört das Mobbing für den jungen Berliner auf. Die Liebe zu Hip-Hop dagegen bleibt. „Jetzt bin ich schon seit über 20 Jahren in der Szene dabei."
Wenn Fidi nicht gerade an seinen Tracks bastelt, widmet sich der junge Berliner der aktiven Inklusionsarbeit. Er sitzt im Kuratorium der Lebenshilfe, engagierte sich für die Aktion Mensch und arbeitete eine Zeit lang bei einem Ambulanten Pflegedienst. Als Schulungsleiter kümmerte sich Fidi um die berufsbegleitende Qualifizierung von Persönlichen Assistenten und Assistentinnen im Spandauer Pflegenetzwerk. „Jetzt habe ich meinen Job gewechselt", erzählt der Rapper. Bald fängt Fidi bei der Caritas an, genießt noch seine letzten arbeitsfreien Tage.
„Jetzt habe ich auch mal Zeit die Wäsche zu machen oder mit meinen Freunden auch mal einen Brettspielabend zu veranstalten", erzählt er von seinem Alltag. Der unterscheidet sich – trotz seiner Behinderung – kaum von dem der anderen. Fidi liest viel, geht einkaufen, kümmert sich um seine gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Wilmersdorf und zockt am PC. Seine Wohnung ist nicht komplett barrierefrei. „Ich habe nur einen höhenverstellbaren Tisch, einen speziellen, bequemen Stuhl und eine Halterung im Bad." Mehr braucht Fidi für seinen Komfort nicht. „Ich kann auch kochen", fügt der Berliner an. Nur das mit dem Schälen fällt ihm schwer. „Deswegen ist gesund essen auch so eine Sache. Es gelingt nicht immer."
Auch wenn ihn seine Freunde als „gelebte Inklusion" bezeichnen, ist Fidi authentisch-sympathisch geblieben. Seine Vorbildfunktion lebt er ohne Pathos. Zwingt niemandem etwas auf. „Es ist normal, verschieden zu sein", betont Fidi. Damit gehört er nach Walzers Theorie zu den besagten fünf Prozent. Zu dieser kleinen Gruppe von Menschen, die etwas bewegen kann. Damit der Rest der Gesellschaft diesen Gedanken aufgreift.