Wer sucht, der findet selbst nach 270 Jahren noch kaum Bekanntes
„Und bin so klug als wie zuvor." Wer Werk und Wirken des Olympiers studiert, verzweifelt wie Faust in seiner Studierstube an der Wandelbarkeit des Dichterfürsten. In der Wundertüte der Goethe’schen Besonderheiten gibt es zahllose Kuriositäten, die nach und nach oder erneut – oft mit der Unterbrechung eines Jahrhunderts – ans Licht kommen. Zwar hat Goethes Vertrauter Johann Peter Eckermann in seinen „Gesprächen mit Goethe" viel Vertrauliches aus der Gedankenwelt und den Aktionen seines Mentors verraten, doch es blieb zum Beispiel unerwähnt, dass Eckermann es war, der Goethe geradezu nötigte, den „Faust II" zu schreiben.
Die Anregung zum Faust-Stoff hatte Goethe von dem damals populären „Puppenspiel von Doktor Faust" erhalten, als er noch in Leipzig studierte und sich – immer von rasender Eifersucht geplagt – dort in die Wirtstochter Anna Katharina Schönkopf verliebte. Den unglücklichen Ausgang dieser Liaison verarbeitete er mit 19 Jahren in seinem ersten, kaum bekannten dramatischen Werk „Die Laune des Verliebten", einem Schäferspiel in Versen.
Ebenso in Vergessenheit geraten ist Goethes Hinwendung zum Islam – einem philosophisch geprägten Interesse, das jedoch die göttliche Herkunft des Koran akzeptierte und die Gleichstellung des Islam mit abendländischen Religionen beansprucht. Alles nachzulesen in Goethes „West-östlichem Divan", der 1999 in Weimar den Namen bei der Gründung des West Eastern Divan Orchestra mit jungen Musikern aus Israel und arabischen Staaten unter der Leitung von Daniel Barenboim lieferte.
Bekannter ist der Welterfolg von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers", der gleich nach Erscheinen 1774 eine Selbstmordwelle auslöste. Verbunden und kaum diskutiert mit der Frage nach dem Umgang des Sprachgenies Goethe mit der deutschen Sprache: warum „Werthers"? Spätere Adaptionen wählen den korrekten Titel „Die Leiden des jungen Werther". Doch die Ungewissheit bleibt, lässt doch Goethe gleich am Anfang des „Faust" den Geist „Wer ruft mir?" sagen. Dativ statt Akkusativ – eine Reverenz an die Berliner, denen er „Spuk in Tegel" nachsagte?
Klarer sind Goethes im Gewühl der Dichtung untergegangenen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Etwa seine Anmerkungen zur Farbenlehre, mit denen er sich 1810 gegen die Lehre des Isaac Newton stellte, dem er vorwarf, „Hypothesen an den Anfang" zu stellen, oder seine medizin-historische Entdeckung des Zwischenkieferknochens.
Eher in die Rubrik „Promi-News" gehören – trotzdem weitgehend unbekannt – die Arabesken während Goethes Zeit als Theaterintendant in Weimar von 1776 bis 1817. Diese glorreiche Epoche der Weimarer Klassik endete für den Dichterfürsten, als er eine Weisung des Großherzogs Carl August nicht befolgte. Der wollte, dass bei der Aufführung des Stücks „Der Hund des Aubry" ein leibhaftiger Hund auftrat. Dieses Melodram des Franzosen René Charles Guilbert de Pixérécourt war damals äußerst populär. In Paris blieb es von 1814 bis 1834 durchgehend im Repertoire des Théâtre de la Gaîté. In London hatte es in Covent Garden Premiere. In Berlin hatte „Der Hund des Aubry" im Oktober 1815 seine deutsche Erstaufführung. Der Großherzog verlangte, dass in Weimar ein leibhaftiger Hund auftrete. Goethe fand dieses Ansinnen abwegig und legte sein Intendantenamt nieder. Bei den folgenden Aufführungen im gesamten europäischen Raum waren dann dressierte Hunde willkommene Darsteller.
Spaßiger und freudvoller gestaltete sich in Weimar zeitweise die Zusammenarbeit mit seinem Dichterkollegen Friedrich Schiller. Mit ihm verfasste er im Dezember 1795 die „Xenien" (Gastgeschenke), Spottgedichte auf zeitgenössische Schriftsteller. Goethe hatte Schiller die Idee hierzu am zweiten Weihnachtsfeiertag unterbreitet und der reagierte begeistert: „Der Gedanke mit den Xenien ist prächtig und muss ausgeführt werden." Fortan schickten sich beide laufend Xenien zu, die Schiller in seinem „Musenalmanach auf das Jahr 1797" veröffentlichte. Auf literarische Fliegenfänger und auf Dichter wie Friedrich Nicolai oder Christoph Martin Wieland hagelte die Ironie der beiden Weimarer Geistesgrößen hernieder und löste einen regelrechten „Xenien-Krieg" mit anonym veröffentlichten „Gegen-Xenien" aus. Ein Spektakel, das jedenfalls Goethe und Schiller viel Freude bereitete und das in die Geschichte der kaum bekannten Goethe-Gags eingegangen ist.