Die deutschen Kunstturner fiebern den Heim-Weltmeisterschaften ab Anfang Oktober in Stuttgart entgegen. Das wichtigste Ziel der Gastgeber ist die Qualifikation beider Riegen für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Doch in der Vorbereitung auf Stuttgart lief nicht alles rund.
Planmäßig können die deutschen Kunstturner ihre Vorbereitung auf die bevorstehenden Heim-Weltmeisterschaften in Stuttgart (4. bis 13. Oktober) sicher nicht nennen. Ob Vorturner Marcel Nguyen, Kapitän Lukas Dauser, Rekordmeisterin Elisabeth Seitz oder die frühere Weltmeisterin Pauline Schäfer – alle plagten sich während des Countdowns auf den Saisonhöhepunkt mit Verletzungen. Dennoch peilen beide Riegen die Qualifikation für die Olympia-Wettkämpfe im nächsten Jahr in Tokio an. „Das", macht Sportdirektor Wolfgang Willam vom Deutschen Turner-Bund (DTB) eindeutig klar, „ist unserer oberstes Ziel." Durch die Verletzungsprobleme in den Mannschaften der Bundestrainer Andreas Hirsch (Männer) und Ulla Koch (Frauen) sind die Tickets nach Japan allerdings trotz des Heimvorteils alles andere als ein Selbstläufer. Ein Platz unter den besten zwölf Teams muss am Neckar für die Gastgeber schon herausspringen, soll Olympia nicht völlig ohne oder lediglich in Einzeldisziplinen mit Aktiven aus dem Land von Turnvater Jahn stattfinden.
Die Uhr bis zur ersten Übung tickt vor allem für Marcel Nguyen besonders laut herunter. Der zweifache Olympia-Zweite von London 2012 (Mehrkampf und Barren) erlitt Anfang September im Trainingslager in Kienbaum bei einer Reckübung eine Verletzung an der schon öfter lädierten linken Schulter. Wegen des Anrisses einer Sehne in dem sensiblen, für Turner aber geradezu elementar wichtigen Bereich des Oberkörpers will der 32-Jährige sein Übungspensum bis Stuttgart nunmehr so reduzieren, dass seine zehnte WM-Teilnahme nicht in Gefahr gerät. Keine leichte Aufgabe, zumal Nguyen vor seinen eigenen Fans natürlich in Topform glänzen und damit seinen Beitrag zur erhofften Olympia-Fahrkarte leisten will. Bis auf weiteres sollen die Schwierigkeitsgrade seiner Übungen verringert werden, ohne dass der Unterhachinger von den Kampfrichtern allzu sehr heruntergewertet werden kann. „Wir müssen es vernünftig machen. Wenn ich bei irgendeinem Element darüber nachdenke, ob die Sehne völlig reißen könnte, dann müssen wir es rausnehmen", beschreibt der Unterhachinger seinen Plan. Bundestrainer Hirsch setzt große Hoffnungen auf eine rechtzeitige Genesung: „Ich brauche ihn und will ihn dabeihaben." In jedem Fall tritt Nguyen wegen der Blessur in Stuttgart nur als „Teilzeit-Turner" an vier Geräten an. Die Wettkämpfe am ohnehin ungeliebten Pauschenpferd und an den Ringen lässt der Sportsoldat aus. Allerdings macht sich Nguyen an seinem Paradegerät Barren auch nur noch wenig Hoffnungen auf die Teilnahme am Finale. „Vor der Verletzung", sagte der Sohn eines Vietnamesen und einer Deutschen schon Mitte September bei der Vorstellung des WM-Teams vor einem Länderkampf in Backnang, „wäre das vielleicht realistisch gewesen. Jetzt glaube ich eher nicht mehr, dass das etwas werden kann."
„Ich brauche ihn und will ihn dabeihaben"
Wie Nguyen, so konnte auf der Zielgeraden nach Stuttgart auch Vereinskollege Lukas Dauser nur eingeschränkt trainieren. Zwar kurierte der 26-Jährige in rekordverdächtiger Zeit von nur drei Monaten einen Mittelhandbruch aus, doch bei der WM-Generalprobe in Backnang zog sich der Kapitän einen Anriss im hinteren Innenband des Sprunggelenkes zu. Ein Tapeverband soll nun verhindern, dass Dauser vor der WM zurückgeworfen wird.
Nachdem Reckspezialist Andreas Bretschneider nach seinem Achillessehnenriss trotz vollständiger Genesung nicht mehr in eine ansprechende Form gekommen war, sind alleine Mehrkampf-Meister Andreas Toba sowie Nils Kelling und WM-Debütant Karim Rida sorgenfrei in den Endspurt auf Stuttgart gegangen. Bundestrainer Hirsch blickt der WM gleichwohl erwartungsfroh entgegen: „Alle Jungs haben Willen."
Bloßer Wille hat unterdessen für Pauline Schäfer nicht zu einem Platz im WM-Team gereicht. Nur zwei Jahre nach ihrem sensationellen Schwebebalken-Triumph bei den Titelkämpfen in Montreal ist die gebürtige Saarländerin in Stuttgart als Reservistin hinter den „Top Five" von Hirschs Frauen-Kollegin Koch zunächst einmal nur Zuschauerin. Damit setzt sich für die 22-Jährige eine Reihe von Negativerlebnissen seit dem WM-Gold von Kanada fort: Im vergangenen Jahr lieferte Schäfer zunächst nur eine mäßige EM ab, trennte sich danach von ihrer langjährigen Trainerin Gabi Frehse und verpasste wegen einer Fußverletzung die Verteidigung ihres Titels in Doha. Aufgrund der Folgen und des Trainingsrückstands war die Wahl-Chemnitzerin bei der diesjährigen EM nur wenig mehr als ein Schatten ihrer selbst, bevor Schäfer danach wieder mit ihrer schon überwunden geglaubten Rückwärts-Blockade zu kämpfen hatte und durch ihre Umstellung auf ausschließlich vorwärts dargebotene Akrobatik seltener hohe Noten bekam. Die Quittung lieferte Kochs Computer nach Auswertung von „Best of"-Resultaten aller WM-Kandidatinnen: Als Sechste verpasste die Sportsoldatin, die in Chemnitz aufgrund von Hallenproblemen und fehlenden Trainingszeiten häufig mit der männlichen Trainingsgruppe übt, den Sprung in den Kreis der WM-Starterinnen. „Es tut mir für Pauline sehr leid. Aber es war keine Bauchentscheidung, sondern ich habe mich an die genauen Nominierungskriterien gehalten", begründete Bundestrainerin Koch die Zusammenstellung ihres WM-Quintetts.
„Eine wie sie kann jede Trainierin gebrauchen"
Das Rampenlicht dürfte ohne das verhinderte „Glamour Girl" Schäfer („Die Enttäuschung ist da, gehört aber zum Sport.") weitgehend Lokalmatadorin Elisabeth Seitz vom MTV Stuttgart gehören. Für die 25-Jährige ist die WM ein „echtes" Heimspiel, auf das die WM-Dritte von 2018 am Stufenbarren geradezu brennt. Ihren Ehrgeiz unterstrich die gebürtige Heidelbergerin nach ihrem Verzicht auf einen EM-Start in Polen und langwierigen Fußproblemen erst im August bei der DM in Berlin: Durch ihren Erfolg am Stufenbarren stellte die Pädagogikstudentin den Jahre alten deutschen Rekord der Potsdamerin Ingrid Föst von 22 nationalen Titeln ein. Die Bestmarke bestätigte Seitz denn auch nur in ihrem Selbstvertrauen. „Seit meiner WM-Bronzemedaille im letzten Jahr habe ich Power ohne Ende." So viel Power, dass die „Wettkampfsau", wie Koch ihre beste Athletin mitunter gern bezeichnet, noch keine Gedanken an einen Schlussstrich unter ihre Laufbahn verschwendet und womöglich auch noch über Tokio hinaus weitermacht: „Ich bin jetzt seit 2009 dabei und mit meiner Karriere noch lange nicht am Ende." Für Koch, die neben Seitz auch die Stufenbarren-Olympiadritte Sophie Scheder, die deutsche Mehrkampfmeisterin Sarah Voss, die erfahrene Kim Bui und WM-Neuling Emelie Petz nominierte, eine angenehme Aussicht: „Eine wie sie kann jede Trainerin gebrauchen."
Das Gesicht der Titelkämpfe dürfte allerdings jemand anderes werden: US-Superstar Simone Biles. Die vierfache Olympiasiegerin und 14-malige Weltmeisterin gilt als das Nonplusultra. Wie zum Beweis ihrer Ausnahmestellung verschob die 22-Jährige im vergangenen August bei den nationalen Titelkämpfen in Kansas City bei ihrer Bodenkür durch das neue Element „Triple Double" mit gehocktem Doppelsalto rückwärts und dreifacher Schraube einmal mehr die Grenzen im Kunstturnen. Sollte Biles das Kunststück in Stuttgart wiederholen, würde das auch nur von wenigen männlichen Athleten gewagte Element ganz offiziell nach dem nur 1,42 Meter kleinen Turn-Floh aus Ohio benannt werden. „Unser Sport hatte ganz lange Zeit keine Person, die eine solch ikonische Position eingenommen hat", schwärmt US-Frauen-Teamchef Tom Foster schon vor der WM von seiner Vorzeigesportlerin. Dabei strebt Biles in Stuttgart – mehr noch als neue Titel – vor allem weitere Perfektionierung an. Ihr Comeback nach einem Jahr Pause im Anschluss an ihre Olympia-Gala 2016 in Rio de Janeiro verband die zweimalige Weltsportlerin ausdrücklich mit dem Anspruch, sportliche Ziele künftig weniger über Medaillen als vielmehr durch die Auslotung von Grenzen definieren zu wollen.