Das Pilotprojekt „memoreBox" der Barmer-Ersatzkasse und des Spiele-Entwicklers Retro Brain soll die geistigen und körperlichen Fähigkeiten von Pflegeheimbewohnern verbessern. Die Spielekonsole bringt nicht nur Bewegung, sondern auch viel Spaß in den Alltag der Senioren.
Früher hat Philipine Kaufmann gerne Tango getanzt, war aktiv, stand mit beiden Beinen im Leben. Vor vier Jahren brach bei der heute 82-Jährigen Parkinson aus, seit zwei Jahren sitzt sie im Rollstuhl. „Nix mehr drin mit Tanzen!"
Richard Mühlbacher leidet seit vielen Jahren an Polyneuropathie, hat ab knieabwärts kein Gefühl mehr in den Beinen. Dabei hat er früher so gerne gekegelt oder Tischtennis gespielt. „Doch wenn man wie auf Stelzen geht, auf einen Rollator angewiesen ist, vergeht einem der Spaß an der Bewegung", erzählt der 61-Jährige mit Wehmut in der Stimme.
Doch wenn die beiden mit der „memoreBox" im Gruppenraum des Johanna-Kirchner-Hauses der Awo in Saarbrücken spielen, vergessen sie, dass sie im Rollstuhl sitzen oder sich nur noch mit dem Rollator durch die Gänge schieben können. Dann leben die beiden auf, haben das Gefühl, wieder auf der Tanzfläche zu stehen oder mit dem Motorrad über die Autobahn zu düsen. Wie das funktioniert? Ganz einfach: mit digitaler Hilfe.
Die beiden nehmen mit drei weiteren an einem Pilotprojekt der Barmer-Ersatzkasse und des Spiele-Entwicklers Retro Brain teil, bei dem über ein Jahr getestet wird, wie die geistigen und körperlichen Fähigkeiten von Pflegeheimbewohnern durch den Einsatz der therapeutischen Spielkonsole „memoreBox" verbessert werden können. Den jeweiligen Spielen liegen Erkenntnisse der Geriatrie, der Neuropsychologie sowie der Physio- und Musiktherapie zugrunde.
Die computergesteuerten Bewegungsspiele lassen sich mit leichten Körperbewegungen im Sitzen und Stehen steuern und versetzen die Teilnehmer in eine virtuelle Welt, in der sie als Postbote auf einem Fahrrad fahren und Briefe und Zeitungen zustellen oder mit einem Partner Tischtennis spielen, „alle Neune" abräumen, singen oder eben tanzen und Motorrad fahren. Drei Stunden pro Woche wird mittels ausgeklügeltem System genau dokumentiert, wer welches Spiel gespielt hat und wie viele Punkte er dabei erzielt hat. Denn für jede richtige Bewegung, für jeden umgeworfenen Kegel oder für jeden richtig zugestellten Brief gibt es Pluspunkte. Die freundliche Stimme aus dem Computer motiviert dabei die Spieler, sich über Erfolge zu freuen. Aufmunternde Worte trösten über Misserfolge hinweg. „Dieses Projekt macht mir einen Mordsspaß", jubelt Raymon Kamau. Der gebürtige Kenianer, der an einer neurologischen Erkrankung leidet, blüht auf, wenn er als Postbote mal über Kopf, mal aus dem Schultergelenk heraus Briefe in gelbe oder blaue Postboxen einwirft. „Dann denke ich nicht daran, dass ich nie mehr auf einem Fahrradsattel sitzen werde. Nie mehr werde gehen können."
Pilotprojekt läuft über ein Jahr
Für die einzelnen Spiele gibt es sogar eine Art „Bestenliste", in der vermerkt wird, wie viele Punkte jeder einzelne Teilnehmer in den vergangenen Tagen erzielt hat. „Wobei es für die Teilnehmer nicht wirklich wichtig ist, ob sie Erster oder Zweiter sind, aber ab und zu reizt es schon den einen oder anderen, in der Bestenliste nachzusehen, wo sie stehen und sich gegenseitig anzustacheln, besser zu werden oder an die Erfolge des Vortages anzuknüpfen", schmunzelt Tamara Herrmann, die Leiterin der sozialen Betreuung im Johanna-Kirchner-Haus und Organisatorin des „memoreBox"-Projektes. „Wie sich das Projekt genau auswirkt, wird über die Begleitforschung erfasst", erklärt Dunja Kleis, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Rheinland-Pfalz und im Saarland.
„Neben der Gruppe der Teilnehmer gibt es eine Gruppe von fünf Heimbewohnern, die nicht spielt. In regelmäßigen Abständen wird dokumentiert, wie sich die körperliche und geistige Verfassung der teilnehmenden Pflegeheimbewohner verändert." „Schon nach wenigen Tagen können wir feststellen: Die Kommunikation zwischen den Teilnehmern und anderen Bewohnern ist angewachsen", so Einrichtungsleiterin Daniela Birster und Pflegedienstleiter Christian von Kügelgen. „Untereinander und auf den Fluren wird über die ‚memoreBox‘ gesprochen."
Eine Beobachtung, die Günter Schankola heftig nickend bestätigt. „Mir persönlich ist es nicht wichtig, auf welchem Platz in der Bestenliste ich stehe, aber dass ich dank der Teilnahme an diesem Projekt jetzt verstärkten Kontakt zu den anderen Mitspielern bekommen habe, freut mich ganz besonders. Ich fühle mich jetzt viel besser eingebunden in meine neue Umgebung", sagt der 72-Jährige, der seit knapp zwei Jahren im Johanna-Kirchner-Haus lebt.
Neben diesem sozialen Aspekt wird sich die Nutzung der Spielkonsole – so die Hoffnung – auch positiv auf altersbedingte Erkrankungen wie Demenz und Parkinson auswirken und das Risiko von Stürzen mindern. „Nach einem Jahr werden wir mehr dazu wissen. Wir sind schon sehr gespannt auf die Ergebnisse", sagt Boris Wolff, Landespressesprecher der Barmer. Aus den Reihen der Teilnehmer gibt es sogar schon erste Verbesserungsvorschläge: „Ich finde das Tanzen per ‚memoreBox‘ zwar schön, aber anstrengend. Nicht nur wegen der Bewegung, sondern auch wegen der Musik. Da könnte ruhig mal etwas Modernes kommen", gesteht Arno Müller. Der 71-Jährige sitzt wegen Herzproblemen im Rollstuhl und zwinkert: „Peter Maffay, das wäre doch mal was."