Die Schmöker-Leidenschaft der Norweger zeigt sich zum Beispiel in der imposanten Nationalbibliothek in Oslo gleich neben dem Opernhaus. Die Begeisterung hat auch geschichtliche Gründe: Bei der Identitätsbildung im 19. Jahrhundert spielte die Literatur eine wichtige Rolle – und tut es noch immer.
In der heutigen norwegischen Gesellschaft findet man die Literaturbegeisterung in einem überaus gut ausgebauten Fördersystem wieder, das in den 60er-Jahren in seiner heutigen Form etabliert wurde. Norwegen, ein dank umfangreicher Ölreserven reiches und daher auch wirtschaftlich sehr gut aufgestelltes Land, leistet sich einen besonderen Luxus: Der Staat selbst kauft Jahr für Jahr eine beträchtliche Zahl an Neuerscheinungen und verteilt diese an die öffentlichen Bibliotheken. Das gilt für Romane ebenso wie für Kinder- und Jugendbücher, Übersetzungen, Sachbücher und Graphic Novels und spült den Verlagen zuverlässig Geld in die Kassen.
Zieht man in Betracht, dass die Einwohnerzahl Norwegens bei lediglich knapp über fünf Millionen liegt, wird die Notwendigkeit einer solchen Regelung schnell klar: Bei einer überschaubaren Lesermenge ist öffentliche Förderung ein hoher Trumpf. Und sie zahlt sich aus: 88 Prozent der Bevölkerung im lesefähigen Alter greifen mindestens einmal im Jahr zu einem Buch; im Durchschnitt liest jeder Norweger jährlich 15 Bücher; 438 Verlagshäuser versorgen die rund 550 Buchhandlungen regelmäßig mit neuem Lesestoff. Welches sind die prägenden Autoren Norwegens? Neben Klassikern von Dramatikern wie Henrik Ibsen oder dem Romancier Knut Hamsun sind die großen Namen der Gegenwartsliteratur Jon Fosse, Karl Ove Knausgård und Tomas Espedal regelmäßig unter den Erstgenannten. Jeder davon hat eine prägnante Stimme. Knausgård und Espedal etwa werden für ihre ebenso unterschiedliche wie schonungslose Selbstbespiegelung gefeiert – die groß angelegte autobiografische, sechsbändige „Min-Kamp"-Serie von Knausgård sorgte für regelrechte Anstürme auf Buchhandlungen; Espedal, der einen knapperen Stil pflegt, hat zuletzt auch das autobiografische Element in seinen Romanen „Wider die Natur", „Wider die Kunst" und „Gehen: oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen" betont. Jon Fosse ist mit seiner kunstsinnigen, lyrisch gefärbten Prosa eine der markantesten Stimmen seiner Generation. Im Herbst erscheinen die ersten Bände seines Siebenteilers „Der andere Name", angekündigt als sein Opus magnum.
Was den eigentlichen Charme des Ehrengastes der Frankfurter Buchmesse jedoch ausmacht, ist die große, durch breite Übersetzungsförderung angeregte Welle von Novitäten. Diese ermöglicht es dem deutschsprachigen Publikum, noch viele weitere spannende Stimmen der norwegischen Gegenwartsliteratur zu entdecken. Fast kein größerer Verlag, aber auch viele kleine, unabhängige Häuser lassen es sich nehmen, in ihren aktuellen Herbstprogrammen mit Titeln aus Norwegen zu werben – und das teils mit einem nicht geringen Marketingaufwand.
Norweger lesen 15 Bücher im Jahr
Johan Harstad wurde 1979 in Stavanger geboren. Er ist einer der populärsten skandinavischen Gegenwartsschriftsteller, hat bislang neun Romane und sieben Theaterstücke verfasst. Sein Roman „Buzz Aldrin, wo warst du in all dem Durcheinander", der 2005 erschien, gilt als Kultbuch. „Max, Mischa & die Tet-Offensive" ist mit mehr als 1.200 Seiten sein bisher umfangreichster. Lotta Elstad wurde 1982 geboren, arbeitet als Autorin, Journalistin, Historikerin, Lektorin. „Mittwoch also" ist ihr sechstes Buch und das erste, das in deutscher Übersetzung erscheint. Eivind Hofstad Evjemo wurde 1983 in Levanger geboren und studierte literarisches Schreiben in Göteborg. „Vater, Mutter, Kim", in Norwegen bereits 2014 erschienen, ist sein dritter Roman und der erste, der auf Deutsch erscheint. Mit seinem ersten Roman „Vekk meg hvis jeg sovner" („Weck mich, wenn ich schlafe") gewann er 2009 den Tarjei-Vesaas-Debütantenpreis, Norwegens prestigeträchtigste Auszeichnung für einen Erstling.
Von der Metropolregion Minneapolis-Saint Paul ausgehend, breitet Johan Harstad in „Max, Mischa & die Tet-Offensive" seinen erzählerischen Kosmos aus. Es geht um Max, den Theaterregisseur, der als Kind mit seiner Familie in die USA ausgewandert ist, seinen Onkel Owen und seinen Freund, den Schauspieler Mordecai. Es ist ein großes Erinnerungsbuch, das mit der Geschichte der politisch bewegten Elterngeneration beginnt. Francis Ford Coppolas Film „Apocalypse Now" ist das Bindeglied zwischen den Figuren, ist Schlüsselerlebnis für den jungen Max, mit dem er die Politisierung seiner Eltern versteht, und der Lieblingsfilm von Mordecai. Max, der große Teile des Romans aus dem Rückblick erzählt, hat aber auch einen anderen großen Pol in seinem amerikanischen Leben: Es ist die Malerin Mischa, wunderschön, der Schauspielerin Shelley Duvall wie aus dem Gesicht geschnitten. Johan Harstad nimmt sich viel Zeit, das Leben von Max und seine Gedanken zu beschreiben. Es ist ein hoch melancholischer Roman über das Verlorengehen in der Fremde und die Sehnsucht nach Norwegen, dem engen Heimatland, das aus der Ferne wieder zur Idee einer heilen Welt wird.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich bei Lotta Elstad: Ihr Roman „Mittwoch also" ist schnell und wütend geschrieben, aus der Perspektive einer jungen Frau, die sich mitten in einer Lebenskrise befindet. „Oslo 2016: Alles, was ich früher gern gemacht habe, ist heute entweder unmöglich, moralisch verwerflich oder gesetzeswidrig", flucht die Erzählerin, die 33-jährige freie Journalistin Hedda Møller, zu Beginn. Zuvor hat sie in einem hippen Innenstadt-Café versucht, ihren Koffer von einer Urlaubsreise nach Griechenland zurückzubekommen. Jetzt bespricht sie mit ihrem Arzt einen Schwangerschaftsabbruch. Ihre Langzeitaffäre Lukas hat kurz zuvor mit ihr Schluss gemacht, und sie hat nach einem Flugzeugabsturz in Sarajevo eine Odyssee durch Europa hinter sich. Auf ihrer letzten Station in Berlin lernt sie Milo kennen, ein spontanes Tinder-Match – jetzt ist sie ungewollt schwanger. Wie es in Norwegen Vorschrift ist, muss sie vor dem Abbruch eine dreitägige Bedenkzeit absolvieren. Diesen kuriosen Umstand beschreibt Lotta Elstad humorvoll und voller Zynismus einem Land gegenüber, das sich nach außen hin fortschrittlich gibt und doch in vielen gesellschaftlichen Belangen noch sehr konservativ geprägt ist. Gerade dieses Jahr wurde das Abtreibungsrecht von der amtierenden Mitte-rechts-Regierung wieder verschärft.
Melancholisch, wütend, sensibel – literarische Facetten aus Norwegen
Auch Eivind Hofstad Evjemo thematisiert einen wunden Punkt der norwegischen Gesellschaft. Aber sein Roman „Vater, Mutter, Kim" ist leiser und poetischer: Er handelt vom geregelten Leben von Sella und Arild. Ganz nebenbei spielt die Geschichte des Utøya-Massakers vom 22. Juli 2011 mit hinein: Ein Sohn der Nachbarn von Sella und Arild war unter den Opfern. Wie ein schreckliches Ereignis in den Alltag eindringt, welche Vorwürfe man sich als Unbeteiligter macht und was Menschen zusammenhält, spielt Evjemo sorgfältig durch. Nicht nur persönliche Fragen, auch der gesellschaftliche Umgang spielt eine Rolle. Etwa wenn es um Gedenkveranstaltungen geht, die sich kaum den einzelnen Schicksalen widmen, sondern wie schrille Fernsehshows aufgebaut sind.
Drei Romane – drei Stimmen, die einen unverstellten Blick auf norwegische Realitäten 2019 zulassen. Johan Harstad mit einem melancholischen, aber sehr warmen Blick aus der Ferne. Sein episch langer Roman ist gleichsam eine Hommage an die US-amerikanische Popkultur, die auch ein am Rande Europas gelegenes Land wie Norwegen mit dem Rest der Welt verbindet. Lotta Elstad, die junge, wütende Stimme, die konservative Strukturen in der norwegischen Gesellschaft angreift und ebenso ein Bild der rastlosen Nullerjahre-Generation zeichnet, die sich auf Billigreisen quer durch Europa begibt. Eivind Hofstad Evjemo, eine Stimme der Beschwichtigung, der den Schmerz über ein unaussprechliches Ereignis, das sich tief in den Alltag der norwegischen Familien eingebrannt hat, untersucht und mit einem feinen Gespür die Ausläufer der Schockwellen nachzeichnet. Alle drei Autoren kann man dieses Jahr beim Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse erleben – und noch viele mehr.