Der Norweger Erling Kagge, 56, ist einer der größten Abenteurer unserer Zeit. Er war am Nordpol, am Südpol und auf dem Mount Everest und kann für sich in Anspruch nehmen, als erster Mensch diese drei Extrempunkte erreicht zu haben. Kagge hat auch New York unterirdisch durch U-Bahn-Tunnel und die Kanalisation durchwandert. Vor Kurzem erschien sein neues Buch – „Gehen. Weiter gehen".
Herr Kagge, Sie haben ein Buch übers Gehen geschrieben. Was bedeutet Gehen für Sie?
Zunächst ist Gehen natürlich ein Mittel, um von A nach B zu kommen und dann gibt es die Gesundheitsaspekte. Wer viel läuft, wird weniger krank. Das ist offensichtlich, aber nichts, worüber es sich lohnen würde, zu schreiben. In meinem Buch wollte ich mich einem anderen Aspekt widmen. Ich wurde oft gefragt „Warum gehst du so viel, wo es doch schneller ist zu fahren?" Das ist eigentlich gar keine dumme Frage, denn in unserer Gesellschaft gilt der als klug, der schnell von einem Ort zum anderen kommt und so Zeit spart. Aber oft spart man gar keine Zeit und es ist gar nicht so praktisch. Unser Leben ist so schnell, alles geht schnell vorbei. Gehen aber ist eine Art Zeitmaschine. Langsam zu gehen, dehnt die Zeit, lässt sie länger erscheinen. So bekommt man das Gefühl, dass das Leben lang ist. Wenn du durch eine Stadt gehst und die Dinge langsam an dir vorbeiziehen oder wenn du dich langsam einem Berg näherst, dann spürst du die Dinge, wenn du aber schnell daran vorbeifährst, dann bleibt nichts zurück.
Haben Sie dieses langsamere und entspanntere Leben schon immer gelebt?
Als Mensch verändert man sich doch ständig. Ich bin in einem Elternhaus ohne Auto und Fernsehapparat aufgewachsen. Das hat mich schon geprägt. Aber zu manchen Zeiten meines Lebens war ich auch sehr eingespannt, ich hatte das Gefühl, eine hohe Geschwindigkeit halten zu müssen. Manchmal muss man das wirklich. Manchmal fordert das Leben das von dir. Doch meistens ist das ein Fehler.
Sie haben schon ein Buch über die Stille geschrieben, warum jetzt eines übers Gehen?
Vor hundert Jahren hätte man weder ein Buch über Stille noch über das Gehen gebraucht. Und selbst vor zehn Jahren wären solche Bücher auf weniger Interesse gestoßen. Unsere Zeit ist aber mehr und mehr nach außen gewandt und da suchen manche wieder den Blick nach innen. Heute rennen die Menschen doch weg vor sich selbst, das bewusste Gehen ist der Weg, nach innen zu finden.
Die Leute wählen heute meist die einfachere Alternative. Wenn sie sich beispielsweise zwischen fahren oder gehen entscheiden können, entscheiden sich die meistens fürs Fahren. Aber der einfache Weg ist nicht immer der bessere. Auch ich wähle manchmal den leichteren Weg, aber wer Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat immer die einfachere Lösung wählt, verpasst einen Teil des Lebens. Er verzichtet darauf, ein Mensch zu sein, der sich frei entscheidet, denn eigentlich trifft er gar keine Wahl mehr.
Als Entdecker und Abenteurer haben Sie sehr oft den schwereren und risikoreicheren Weg gewählt …
Ein Risiko gibt es immer. Nichts ist völlig risikolos, ebenso wenig ist aber auch nichts sicher zum Scheitern verurteilt. In meinen Augen waren meine Expeditionen kein besonderes Risiko. Ich war immer extrem gut vorbereitet. Gleichzeitig wusste ich aber, dass man nie perfekt vorbereitet sein kann, wollte man das, könnte man nie losgehen. Deswegen war ich immer demütig gegenüber der Herausforderung.
Haben Sie je Angst gehabt, von Ihren Expeditionen nicht mehr lebend zurückzukommen?
Nein, den Gedanken hatte ich nie. Ich war mir natürlich der Gefahren bewusst, aber den Gedanken, dass ich scheitern könnte, hatte ich nie. In schweren Situationen auf dem Weg zum Nord- oder Südpol habe ich mich schon manchmal gefragt, was ich hier eigentlich mache, aber wirklich bereut habe ich meine Expeditionen auch dann nicht. Viele Leute fragen mich, warum ich die Expeditionen überhaupt gemacht habe. Die Leute wollen immer für alles Erklärungen haben. In diesem Fall ist es aber gar nicht so leicht zu erklären. Eigentlich ist ein solches Unternehmen ja auch absurd.
Was war denn schwerer: Der Weg zum Nord- oder der zum Südpol?
Eindeutig der zum Nordpol. Auf dem Weg zum Südpol gehst du auf einem Kontinent, sobald du auf dem Plateau bis, ist das einfach ein langer Marsch auf Skiern. Es war eine Wanderung ins eigene Ich.
Sie waren der erste Mensch, der allein zum Südpol ging.
Ja, das war Teil des Projekts. Außerdem hatte ich auch keinen Funkkontakt zur Außenwelt. Ich war also wirklich allein.
War das der größte Unterschied zur Nordpolexpedition? Dorthin waren sie mit einem Partner unterwegs.
Der menschliche Kontakt hat mir auch am Südpol nicht gefehlt. Wenn man zu zweit ist, gehen natürlich einige praktische Dinge leichter von der Hand, und man spornt sich gegenseitig auch ein wenig an. Aber wir haben auf dem Weg zum Nordpol kaum geredet. Es gibt auch nicht so viel zu sagen, irgendwann hört man auf zu denken. Außerdem muss man immer aufpassen. Du gehst da über eine Eisfläche, da gibt es Eisspalten, gegeneinander verschobene Eisschollen, schlechtes Wetter. Es ist dort auch viel kälter als am Südpol. Kennen Sie das Bild „Das Eismeer" von Caspar David Friedrich, auf dem sich die Eisschollen übereinander schieben? Auf dem Weg zum Nordpol kann es wirklich so sein.
Eine ganz andere Expedition haben Sie in den Untergrund von New York unternommen. 2010 waren Sie fünf Tage lang im Kanalsystem und den U-Bahn-Schächten der Millionenmetropole unterwegs. Für jemanden, der normalerweise sein Abenteuer in der Natur sucht, ist das ungewöhnlich.
Eine gewisse Ähnlichkeit gibt es schon – auf ihre Art sind die New Yorker U-Bahn-Schächte auch eine Art Wildnis. Ein Freund hat mir damals über das Untergrundsystem in New York erzählt und da hat sich allmählich der Gedanke entwickelt, die Stadt zu durchqueren ohne irgendwo an die Oberfläche zu kommen. Damals hatte ich auch private Probleme und da dachte ich, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei, in die Schächte hinabzusteigen und etwas völlig anderes zu tun. Und irgendwie hat dieser Abstieg auch meine damalige Stimmung widergespiegelt.
Was erwartete einen dort unten?
Überraschenderweise trifft man dort unten auch auf Menschen. Nicht viele, aber doch einige. Mir ist dort eine Frau begegnet, die sich Brooklyn nannte. Sie hat sich in einer kleinen Höhle im U-Bahn-Schacht eingerichtet. Das Essen findet sie in Abfalltonnen. Sie lebt dort mit ihren Katzen, spielt mit ihnen, singt. Sie ist offenherzig, interessiert, gesprächig, humorvoll. Ich habe sie gefragt, wie glücklich sie sich auf einer Skala von eins bis zehn einstufen würde. Sieben hat sie gesagt. Das ist die Antwort, die fast alle Menschen geben, wenn man ihnen diese Frage stellt. Zumindest wenn sie schnell antworten müssen. Dann stuft sich fast jeder zwischen sieben und acht ein. Nur wenn man ihnen Zeit zum Überlegen gibt, und sie an das denken, was alles schlecht läuft, dann stufen sie sich schlechter ein. Diese Frau im U-Bahn-Tunnel hat ihr Leben also nicht als besonders unglücklich empfunden.
Auf Ihren anderen Expeditionen haben Sie sich akribisch vorbereitet, das war hier wohl nicht möglich?
Doch gerade da war es sehr wichtig, sich vorzubereiten. Wenn man beispielsweise den falschen Gullydeckel öffnet und dann plötzlich ein Auto auf einen zufährt, ist das nicht so toll. Ich habe mich deswegen mit Steve Duncan zusammengetan, einem „Urban Explorer", der perfekt Bescheid wusste wie man sich in der Unterwelt New Yorks bewegt und wo man beispielsweise am besten in U-Bahn-Schächte einsteigt.
Sie plädieren ja auch für ein wenig mehr Wagnis im täglichen Leben …
Zu Gehen bedeutet ja schon ein klein wenig mehr zu wagen. Man setzt sich viel unmittelbarer seiner Umwelt aus, dem Verkehr, den Menschen – man ist einfach näher dran am Leben. Wenn man Leute trifft, bevor sie zu einer Wanderung aufbrechen und wieder nachdem sie zurückkommen, dann sehen sie anders aus. Die, die zurückkommen, sind zufriedener, mehr bei sich, glücklicher.