Als die Wissenschaftlerin Dr. rer. nat. Dilyana Filipova Tierversuche durchführen musste, erlebte sie diese als grausam und unsinnig. Sie entschied sich dafür, ohne Versuche an Tieren zu arbeiten. Im Interview spricht sie über mitfühlende und auch abgestumpfte Kollegen, die Angst der Tiere und ihr schlimmstes Erlebnis.
Frau Filipova, welche Tierversuche haben Sie durchgeführt?
Während meiner Doktorarbeit an der Universität zu Köln habe ich genetische und physiologische Untersuchungen an Muskeln von Mausföten durchgeführt. Dafür musste ich die Tiere töten und Muskelgewebe aus ihnen isolieren.
Wie lief das genau ab?
Erst habe ich „Versuchsverpaarungen" mit je einer männlichen und ein bis zwei weiblichen Mäusen eingesetzt, indem sie einen Tag und eine Nacht zusammen in einem Käfig verbracht haben. Da meine Versuchstiere sich in einer großen Versuchstierhaltung befanden, zu der nur die Tierpfleger Zugang haben, habe ich die Tiere via einer Excel-Tabelle, die einer Online-Plattform ähnelt, den Verpaarungen zugeordnet. Die schwangeren Mäuse wurden entweder 15 Tage (Anfang des letzten Schwangerschaftsdrittels) oder 19 Tage (kurz vor der Geburt) nach der Verpaarung zu meinem Labor gebracht. Da hat normalerweise eine erfahrene Person wie ein technischer Assistent oder ein Professor, manchmal auch ich selbst, die Maus an dem Schwanz in die Luft über ein Gitter gehalten, das sie mit den vorderen Füßen greifen konnte, und ihr das Genick mittels einer großen Zange gebrochen. Danach habe ich ihren Bauch schnellstmöglich aufgeschnitten, die Föten mit den Gebärmüttern rausgeholt und sie mit einer Schere geköpft. Alle diese Maßnahmen geschahen nach der Einweisung durch einen Tierschutzbeauftragten. Danach habe ich die Muskeln der Föten für weitere Analysen herauspräpariert.
Wie viele Tiere wurden „vebraucht"?
Innerhalb von sechs Jahren (2013-2019) wurden circa 300 bis 400 Mausföten wie oben beschrieben getötet und verwendet. Allerdings wurden noch circa 1.100 erwachsene Tiere entweder für die Zucht verbraucht oder anhand von deren „ungeeigneten" Genen getötet.
Was genau wurde untersucht?
Die Mäuse beinhalteten Mutationen in zwei Genen, die für die Bildung von zwei für die Muskelbewegung wichtigen Kalziumkanälen in den Muskelzellen verantwortlich sind. Je nach Mutationsgrad werden diese Kanäle entweder in geringeren Mengen oder überhaupt nicht produziert, im letzten Fall sind die Tiere völlig gelähmt und sterben direkt nach der Geburt, weil die Atmungsmuskulatur auch nicht funktioniert. Ein großer Teil meiner Arbeit war die Untersuchung der globalen Genexpressions-Veränderungen, die in den Muskeln von solchen Tieren im Vergleich zu normalen Tieren während der embryonalen Entwicklung stattfinden. Zusätzlich habe ich gentechnisch veränderte Kalziumkanäle in die aus den Mausföten isolierten Muskelzellen eingeführt und ihre physiologischen und biochemischen Eigenschaften wie die Kalziumströme, Proteinfaltung und die interzelluläre Verteilung untersucht.
Welche Ergebnisse haben Sie erzielt?
Ich habe gezeigt, dass ein Funktionsausfall des DHPR- oder RYR1-Kalziumkanals eine globale Veränderung der genetischen Expressionslandschaft verursacht. Mehrere Signalwege, die für die Entwicklung des Muskelgewebes relevant sind, werden irrtümlich reguliert, was zu unvollständiger Reifung und Wachstum der Muskelzellen führt. Darüber hinaus fand ich heraus, dass unterschiedliche Prozesse betroffen sind, je nachdem welcher Kalziumkanal – DHPR oder RYR1 – nicht funktioniert. Alle Ergebnisse sind in zwei wissenschaftlichen Veröffentlichungen detailliert beschrieben.
Wie sinnvoll waren diese Versuche?
Im Nachhinein betrachte ich diese Versuche als sinnlos, weil insgesamt mehr als 1.000 Tiere direkt oder indirekt für sie „verbraucht" und getötet wurden, ohne dass die Ergebnisse das Wohl des Menschen verbessert haben. Ich habe weder ein Medikament noch eine Therapiestrategie für Patienten mit ähnlichen Mutationen in den Kalziumkanälen untersucht, und selbst die Grundkenntnisse, die ich von den Mäusen gewonnen habe, lassen sich nicht einfach auf den Menschen übertragen. Mäuse unterscheiden sich anhand von ihrer Physiologie, Entwicklung und ihrem Lebensraum wesentlich von Menschen. Mausföten zum Beispiel, bei denen einer von den beiden Kalziumkanälen nicht funktioniert, sterben erst nach der Geburt, während menschliche Föten mit dem gleichen Funktionsausfall viel früher sterben – während des zweiten Schwangerschafts-Drittels. Um eine ähnliche Analyse mit menschenrelevanten Daten zu machen, müsste ich eigentlich alle Experimente mit menschlichem Gewebe wiederholen. Letztlich waren die Tierversuche sinnlos, weil sie eine künstlich erzeugte Situation in einer anderen, von uns stark abweichenden Spezies beschreiben.
Wie ging es danach weiter?
Seitdem ich Tierversuche durchführen musste, versuchte ich ständig, sie womöglich mit anderen, tierversuchsfreien Verfahren zu ersetzen. Es gelang mir zum Teil, einige Experimente zum Beispiel durch eine Zellkultur zu ersetzen. Ich habe mich entschieden, nach dem Ende meiner Doktorarbeit nie wieder Tierversuche zu machen. Glücklicherweise habe ich im Oktober 2018 den wissenschaftlichen Kongress „Wissenschaft statt Tierversuche (WIST)" besucht und weltberühmte Forscher kennengelernt, die nicht nur aus ethischen, sondern auch aus wissenschaftlichen Gründen Tierversuche ablehnten. Ich war sehr beeindruckt, weil sich in meiner bisherigen Erfahrung nur wenige Forscher, die Tierversuche durchführen, so intensiv und kritisch mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Weiterhin habe ich mich mit der Arbeit von Ärzte gegen Tierversuche vertraut gemacht, die anhand von vielen umfangreichen Informationen, Statistiken, wissenschaftlichen und klinischen Studien zeigen, warum Tierversuche der falsche Weg sind und den biomedizinischen Fortschritt eher verhindern. Heutzutage freue ich mich, als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Ärzte gegen Tierversuche zu arbeiten und bessere, humanbasierte, tierfreie Methoden in der Biomedizin zu fördern.
Wie fühlten Sie sich dabei, Versuche an Tieren vorzunehmen?
Grausam. Ich fühlte mich wie ein Verbrecher, der harmlose schwangere Mäuse und ihre Babys tötete. Die Tierversuche haben mich dauerhaft emotional belastet. Ich hatte in der Nacht vor fast jedem Tierversuchstermin Albträume und habe eine Art von Angst vor diesen Tagen entwickelt. Ich habe am Anfang versucht, mich selbst zu überzeugen, dass solche Tierversuche in der Wissenschaft unerlässlich seien. Mit der Zeit fand ich aber diese Behauptung zunehmend falsch und sinnlos, weil ich bei diesen Experimenten keinen vorhersehbaren Nutzen für die Menschen sah.
Wie erlebten Sie die Haltungsbedingungen?
Die Haltungsbedingungen erfüllten die gesetzlichen Vorschriften, allerdings wirkten sie auf mich sehr unnatürlich und traurig. Bis zu fünf Mäuse werden in kleinen Plastikkäfigen untergebracht, verhältnismäßig sieht das so aus, als wenn fünf Menschen in einem Zimmer lebenslang eingesperrt würden. Dutzende Käfige sind wie Schubladen in großen Regalen angeordnet. In jedem Käfig befinden sich außer Futter und Wasser ein Papphäuschen, ein bisschen Baumwolle und ein Knabberholz. Es gibt keine Fenster in den Räumen, und die Tiere sind ganzjährig regelmäßigen Perioden von Dunkelheit und künstlichem Licht ausgesetzt.
Wie wirkten die Tiere auf Sie?
In der Tierhaltung wirkten die meisten Tiere gelangweilt und schläfrig. Während des Transports, der Versuche und vor allem vor der Tötung sahen die Mäuse höchst gestresst und ängstlich aus, als ob sie wüssten, was sie erwartet.
Hatten Sie das Gefühl, die Tiere werden gequält?
Ich habe es nie erlebt, dass ein Kollege oder eine Kollegin absichtlich die Tiere gequält hat. Ich finde aber, dass das Leben in einer solchen künstlichen Umgebung, der Platzmangel, die gezielten „Verpaarungen" der Tiere und die Trennung der Jungtiere von der Mutter drei Wochen nach der Geburt – was standardmäßig in der Zucht ist – für die Tiere eine dauerhafte Qual ist. Dazu kommen die Panik und die Schmerzen, die mit den eigentlichen Versuchen verbunden sind.
Was war Ihr schlimmstes Erlebnis?
Ich erinnere mich, als ich einmal Föten präparierte und ein Fötus größer und mehr entwickelt als die anderen aussah. Normalerweise sind Föten in diesem Alter noch stumm, aber als ich diesen anfasste, schrie er laut und qualvoll. Ich wollte ihn nicht töten, hatte aber keine Alternative. Ich werde diese Schreie nie vergessen.
Wie gingen Ihre Kollegen mit all dem um?
Ich mochte meine Kollegen, sie waren alle nette, freundliche, mitfühlende Menschen. Es hat keinem Spaß gemacht, Tierversuche durchzuführen. Trotzdem waren die meisten davon der Meinung, dass für ihre eigene Forschung Tierversuche unvermeidbar sind. Ehrlich gesagt: Ich glaube nicht, dass sie ernsthaft versucht haben, die Tierversuche durch andere Verfahren zu ersetzen.
Wie erlebten Sie den ganzen Betrieb in der Arbeit mit Tierversuchen?
Die Tiere waren immer ein komplexes Thema, weil sie mit vielen Anträgen, Dokumenten, Einrichtungen und Finanzen verbunden waren. Ich finde, die allgemeine Stimmung war eher von solchen Formalitäten beeinflusst. Demzufolge hat man sich mehr Sorgen darum gemacht, alles gesetzlich ordentlich zu machen, als zu versuchen, die Zahlen der Versuchstiere zu reduzieren oder völlig zu ersetzen. Die Menschen, die direkt mit den Tieren gearbeitet haben, waren gestresst und arbeiteten besonders ungern mit den Tieren, wie ich. Einige waren von der langjährigen Arbeit mit Versuchstieren abgestumpft und schienen die Tiere eher als Werkzeuge wahrzunehmen.
Welche Haltung vertreten Sie heute gegenüber Tierversuchen?
Ich bin fest davon überzeugt, dass alle Tierversuche nicht nur aus ethischer, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht abgeschafft werden müssen.
Dank des Vereins Ärzte gegen Tierversuche habe ich umfangreiche Informationen über die wissenschaftlichen Argumente gegen Tierversuche bekommen. Zum Beispiel, dass laut der globalen Statistiken der Arzneimittelentwicklung von allen in Tieren erfolgreich getesteten Medikamenten mehr als 92 Prozent in Menschen nicht funktionieren.
Außerdem gibt es heutzutage vielseitige tierfreie Versuchsmodelle, wie Organoide oder Organs-on-a-Chip, die die Komplexität des menschlichen Körpers viel besser widerspiegeln als die gewöhnlichen Zellkulturen. Deswegen bin ich der festen Überzeugung, dass Tierversuche der Vergangenheit angehören und wegen Mensch und Tier abgeschafft werden müssen.