Vor einem Jahr hat die Landesarbeitsgemeinschaft „Erinnerungsarbeit im Saarland" ihre Arbeit aufgenommen. Sprecher Frank-Matthias Hofmann über neue Formen, aktuelle Aufgaben und den Verzicht auf einen „erhobenen Zeigefinger".
Herr Hofmann, Erinnerungsarbeit steht vor neuen Herausforderungen. Zeitzeugen stehen kaum noch zur Verfügung. Wie kann man damit umgehen?
Zum einen sind wir sehr froh, dass es in den vergangenen Jahrzehnten mit Claude Lanzmann mit seinem Shoa-Projekt, mit den Holocaust-Filmen oder mit Alex Deutsch viele Akteure gegeben hat, die Zeitzeugen intensiv befragt haben. Es gibt Audio-Medien und visualisierte Formen, in denen Interviews festgehalten sind, mit denen man weiterarbeiten kann. Zeitzeugen werden nur noch medial vermittelbar sein. Aber das ist ein Mosaikstein, der in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet worden ist, wo man nur dankbar sein kann, dass das passiert ist. Das wird für didaktische Zwecke an Schulen oder in der Erwachsenenbildung als auch für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung stehen. Dass Zeitzeugen fast nicht mehr da sind, ist ein natürlicher Prozess. Deshalb hat die Erinnerungsarbeit bereits neue Formen gefunden.
Können Sie das an Beispielen festmachen?
Wir sind im Moment dabei, auf Vorschlag des saarländischen Museumsverbandes den „Weg des Gedenkens", den wir am 9. November zur Reichspogromnacht in Saarbrücken gegangen sind, nachvollziehbar zu machen über Apps auf dem Handy. Es gibt eine Firma, die das kostenfrei zur Verfügung stellt. Wir sind in Gesprächen mit der Stadt, diese Orte früheren und heutigen jüdischen Lebens nachvollziehbar zu machen, indem an bestimmten Stellen Informationen abrufbar sind. Das kann mittels QR-Code sein. In Kirkel gibt es Bestrebungen, etwa den Westwall auf eine ähnliche Art erlebbar zu machen. Da geht es nicht in erster Linie um militärische Ereignisse, sondern um Fragen, welche Probleme es zwischen den Westwallarbeitern und der Zivilbevölkerung gab. Die haben viel getrunken, sind marodierend nachts durch die Straßen gezogen. In Jahresberichten eines Pfarrers wird beschrieben, dass gerade konfirmierte Mädchen von einer Hand in die nächste übergegangen sind. Solche Informationen sollen dann auch abrufbar sein. Das sind Mosaiksteine für Erinnerungsarbeit in digitalisierter Form.
Landtagspräsident Stephan Toscani hat Erinnerungsarbeit ebenfalls zu einem wichtigen Punkt seiner Arbeit gemacht. Gibt es da Überschneidungen?
Die Landesarbeitsgemeinschaft Erinnerungsarbeit versammelt im Grunde ja alle Akteure unter einem Dach, nimmt aber den einzelnen Mitgliedern nicht die Arbeit ab. Jedes Mitglied ist selbst verantwortlich für die eigene Programmatik. Wir werden nichts doppeln, sondern bieten so etwas wie eine schützende Hülle und eine Außenvertretung, wenn Anfragen zur Erinnerungskultur allgemein kommen. Eines unserer Mitglieder mit Gaststatus ist auf Betreiben von Landtagspräsident Stephan Toscani und seiner Mitarbeiterin Frau Dr. Kalbfuss eben auch der Landtag. Wir sind in enger Abstimmung und besprechen auch gemeinsame Projekte. Ein Vorschlag ist, das neue Buch über den Gauleiter der Saarpfalz (ab 1935) und dann der sogenannten Westmark (ab 1940), Josef Bürckel, der nicht nur in der Pfalz, sondern auch im Saarland eine sehr wichtige Rolle gespielt hat, auch im besetzten Lothringen, wo der als Chef der Zivilverwaltung fungierte, gemeinsam im Landtag vorzustellen. Es gibt also eine starke Vernetzung, ansonsten arbeiten wir als LAG nach dem Subsidiaritätsprinzip. Wir machen nur das, was unsere einzelnen Mitglieder nicht machen oder machen können, und die wiederum bringen sich mit ihrem Know-how in die LAG ein. Im Übrigen haben wir auch einen intensiven Austausch mit den Kollegen in Rheinland-Pfalz. Es gibt wie mit dem Landtag auch Verabredungen zu gemeinsamen Projekten. Dass wir darauf achten, dass es in einem kleinen Land nicht zu Dopplungen kommt, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Sind junge Menschen in ihren Lebensumfeldern heute noch für diese Themen ansprechbar?
Ja, dafür gibt es gute Beispiele. Ein sehr lobenswertes Projekt ist das, was vom Förderkreis an der Goldenen Bremm gemacht wird, wo jedes Jahr junge Menschen zusammen mit dem Landesjugendring, der evangelischen und der katholischen Jugend, in diesem Jahr auch mit Jugendlichen aus Luxemburg, die Gedenkstätte KZ Neue Bremm gemeinsam pflegen. Es geht um körperliche Betätigung an einer Stelle, wo man weiß, dass dort Menschen gequält und geschunden wurden, ums Leben gekommen sind, und sich darüber hinaus dann inhaltlich mit einzelnen Schicksalen zu beschäftigen.
Es gibt Stimmen, die sagen: „Nach so vielen Jahrzehnten soll man die Geschichte ruhen lassen. Wir haben heute andere Herausforderungen." Was entgegnen Sie denen?
Man sieht heute bei der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft, wie wir durch Rechtspopulismus und Rechtsextremismus dabei sind, auf eine schiefe Ebene zu geraten. Dass Menschen in unserer Gesellschaft wieder ausgeschlossen werden sollen, indem man postuliert: „Wir Deutsche wollen unter uns sein. Flüchtlinge, Migranten, Ausländer sollen draußen bleiben. Wir wollen wieder eine homogene Volksgemeinschaft schaffen." Eine einheitliche Bevölkerungsstruktur hat es aber in Deutschland nie gegeben. Auch die Saarländer sind teilweise ein „Völkergemisch". Dahinter steht also pure Ideologie, und dennoch wird es wieder versucht. Wenn Radikalisierung körperliche Attacken nach sich zieht, wenn Leute bereit sind, zu Gewalt zu greifen, und es so weit geht, dass man Juden, die sich durch eine Kippa zu erkennen geben, angreift, dass man muslimische Frauen, die verhüllt sind, unter den Generalverdacht des Islamismus stellt, dass Schwule und Lesben, die sich öffentlich äußern, angegangen und angriffen werden, wenn Menschen in Rollstühlen mit einer offensichtlichen Behinderung beschimpft und angegangen werden – dann gerät einiges auf eine schiefe Ebene und wir sind bei einer Ideologie, die auf Abwertung zielt. Wenn Sprüche fallen wie: „Wenn wir erst einmal die Macht haben, wird in Deutschland aufgeräumt und dann werden sich manche umsehen" – dann kommt man zur Einsicht: Jetzt weiß man allmählich, wie Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen ab 1933 möglich gewesen sind. In dieser Situation gerade jungen Menschen zu zeigen, wohin das führt, wenn man abfällig über andere zu reden beginnt und Pluralität in einer vielgestaltigen Gesellschaft nicht mehr als Bereicherung sieht, ist eine aktuelle Aufgabe der Erinnerungskultur, die immer politische Bildung sein muss.
Aber Geschichte wiederholt sich nicht.
Vor 15, 20 Jahren hatte man den Eindruck, wir hätten unsere Geschichte aufgearbeitet und hätten ein gutes demokratisches Gemeinwesen, eine offene Gesellschaft. Jetzt stellen wir fest, dass es eine Gegenbewegung gibt, die uns weg führt von Humanität, von Menschlichkeit, von Solidarität. Deshalb glaube ich, dass es auch nötiger denn je ist, sich damit zu beschäftigen: Nicht mit erhobenem Zeigefinger und dem Vorwurf, dass auch die nachfolgenden Generationen eine Art „Kollektivschuld" tragen würden. Es geht darum, einsichtig und für neue Generationen verstehbar zu machen, was in der NS-Zeit an unmenschlichem Verhalten geschehen ist, wie es dazu kommen konnte und vor allem was man tun muss, um derartig inhumanes Verhalten für alle Zeiten auf deutschem Boden auszuschließen. Das Motto der Erinnerungsarbeit lautet: Wachsam bleiben und nicht feige werden!