Seit drei Jahren kreuzt Dr. Barbara Held als Seenotretterin auf dem Mittelmeer. Ihre Bilanz ist ernüchternd: „Man will uns mit aller Gewalt das Leben schwermachen." Trotzdem macht sie weiter.
Frau Dr. Held, Sie haben vor fünf Jahren Ihre Praxis in Hamburg aufgegeben und auf einem Kreuzfahrtschiff als Ärztin angeheuert. Jetzt sind Sie Seenotretterin. Wie kam es dazu?
Ab Mitte 40 denkt ja jeder Mensch über Veränderungen in seinem Leben nach. Ich wollte damals etwas anderes machen, mal raus aus meinem bürgerlichen Trott. Meine beiden Söhne sind groß, und so entschloss ich mich, als Ärztin auf ein Kreuzfahrtschiff zu gehen. Ab 2015, noch lange bevor das Flüchtlingsthema hier in Deutschland hochkam, haben wir das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer mitbekommen, und 2016 hat sich für mich das erste Mal die Chance ergeben, meinen Dienst auf der „Sea-Watch 2" zu versehen.
Wie muss man sich das vorstellen: Wurden Sie angesprochen oder haben Sie sich direkt beworben?
Eine Kollegin erzählte mir, dass immer Seenotretter gesucht werden. Ich habe mich kurz beworben, sehr schnell hatte ich dann die Bestätigung, man suche dringend Personal. Dann habe ich ein Schreiben mit Tipps bekommen, welche persönlichen Gegenstände wir mitnehmen sollen, die dabei helfen können, positive Eindrücke schneller abzurufen, wenn es uns beim Einsatz schlecht geht. Per Telefon wurde mir dann klipp und klar gesagt, welche Situationen auf mich zukommen. Da hätte es dann noch die Gelegenheit gegeben, einen Rückzieher zu machen. Beim Basiscamp auf Malta hat uns kurz vor dem Einsatz dann noch ein Trauma-Therapeut vorbereitet, und dann ging es auch schon los.
Das ist jetzt drei Jahre her. War dann die Realität doch noch schlimmer, als es Ihnen im Vorfeld prophezeit wurde?
Ich habe ja in meinem Leben nicht immer als ,Hausärztin‘ gearbeitet, sondern habe als Notärztin schon viele Schwerstverletzte und auch Tote gesehen. Und ich habe während dieser Tätigkeit, zum Beispiel an Unfallorten, auch gelernt zu improvisieren, was in Notfallsituationen ganz wichtig ist. Das hat mir in den letzten drei Jahren sehr geholfen. Natürlich gibt es bei der Notfallversorgung der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer immer einen Unsicherheitsfaktor, denn ich bin keine Tropenmedizinerin. Aber bisher war immer jemand aus dem Team an Bord, der mir bei Unsicherheiten geholfen hat.
Wie muss man sich das konkret vorstellen, wenn Sie mit Ihrem Team zu einer Rettung hinausfahren? Sie wissen ja nicht, wo die Flüchtlinge auf dem Meer sind.
Mit Vor- und Nachbereitung sind wir gut einen Monat unterwegs, wenn wir nicht noch irgendwo festgehalten werden. Entweder starten wir auf Malta oder von Italien aus, je nachdem, für wen ich fahre. Mittlerweile haben wir für das Mittelmeer genaue Suchmuster, wo die Flüchtlinge in ihren unzureichenden Schlauchbooten ausgesetzt werden. Das ist immer im Bereich der 24-Seemeilen-Grenze, im internationalen Gewässer. Und jeder Nautiker lernt ja schon bei der Mann-über-Bord-Übung, genau zu berechnen, wohin die Meeresströmung eine hilflose Person oder in unserem Fall ein hilfloses Schlauchboot treibt. Das heißt im Praktischen, dass unser Ausguck an Bord 24 Stunden mit je zwei Crewmitgliedern besetzt ist, die regelrecht Ausschau halten, wie wir das von den Schiffen aus den vergangenen Jahrhunderten kennen.
Aber das kann ja nicht schon die ganze Hilfeleistung sein?
Nein, natürlich nicht. Aber es gibt Schlepper, die setzen die Flüchtenden in Schlauch- oder Fischerbooten ohne jegliche technische Hilfe auf dem offenen Meer aus. Die finden sie nicht anders, die kann man nur mit einem Fernglas erspähen, da sie uns in ihren kleinen Booten unter dem Radar durchrutschen. Dann gibt es natürlich humanere Schlepper, die geben ihren Protagonisten zumindest ein Satellitentelefon mit an Bord, damit die Geflüchteten auf sich aufmerksam machen können. Die rufen dann das „Alarm-Phone" an, das ist eine NGO-Organisation zur Rettung von Schiffbrüchigen im Mittelmeer. Diese wiederum gibt dann die Meldung mit den genauen GPRS-Koordinaten an alle Schiffe im Umkreis raus.
Und dann beginnt der Wettlauf gegen die Zeit?
Zum einen natürlich gegen die Zeit, aber – viel schlimmer – vor allem gegen die sogenannte libysche Küstenwache. Denn das ist keine reguläre Küstenwache. Die sind mindestens so kriminell wie die Schlepper selbst. Wenn das Flüchtlingsschiff noch nicht aus der 24-Seemeilen-Zone raus ist, kann es passieren, dass die libysche Küstenwache das Flüchtlingsboot wieder zurückbringt und dann für den Versuch einer zweiten Überfahrt noch mal abkassiert. Das heißt für die Flüchtenden, dass sie wieder am Strand festsitzen und neues Geld auftreiben müssen. Aber auf offener See können wir überhaupt nichts dagegen machen. Solange sich die Libyer innerhalb ihrer 24-Meilen-Zone aufhalten, dürfen sie die Flüchtlinge abfangen.
Wie ist das juristisch, wenn so ein Notruf beim Kapitän eingeht – muss er dann retten?
Das ist ganz klar im internationalen Seerecht so festgeschrieben. Egal, ob Kreuzfahrt-, Containerschiff oder Fischkutter, es muss gerettet werden. Und in den letzten drei Jahren habe ich es auch noch nie anders erlebt, als dass jeder Kapitän sofort zur Rettung bereit ist. Das versteht sich unter Seeleuten von ganz allein. Allerdings habe ich schon mehrfach in den Häfen der Mittelmeeranrainer gehört, dass viele Frachtschiffe aus Kostengründen mittlerweile die bekannten Flüchtlingszonen im Mittelmeer meiden und weiträumig umfahren. Das geht offenbar auf Anweisungen der Reedereien zurück.
Aber was ist denn aus der Seenotrettungsstelle in Rom geworden, die doch verantwortlich ist?
Die informieren uns überhaupt nicht mehr. Wir – also nicht nur auf der Sea-Watch und Sea-Eye, sondern auch die anderen Helfer – sind uns sicher, dass die Seenotrettung in Rom, wenn überhaupt, nur die libysche Küstenwache informiert. Wir können es nicht beweisen, aber von Geretteten ist immer wieder zu hören, dass sie abgefangen wurden. Das Mittelmeer ist riesengroß und die libysche Küstenwache hat überhaupt nicht so viele Schiffe, um das ganze Areal so genau überwachen zu können. Die müssen gezielt Tipps bekommen.
Haben Sie die Hoffnung, dass sich die Lage ändert, jetzt wo Matteo Salvini und seine Lega Nord nicht mehr in der Regierung sind?
(seufzt) Da bin ich mir leider nicht so sicher. Auch wenn die Lega mit Innenminister Salvini jetzt nicht mehr an der Regierung in Rom beteiligt ist, wird sich das vermutlich nicht wirklich positiv auf unsere Arbeit auswirken. Denn die jetzt wieder regierenden Sozialdemokraten haben ja auch während ihrer letzten Amtszeit immer wieder Flüchtlingsschiffe beschlagnahmt oder ihr Auslaufen verhindert. Die Stimmung in Italien ist gegen Flüchtlinge, und die italienischen Sozialdemokraten wollen schließlich wiedergewählt werden. Darum glaube ich, dass uns auch zukünftig über Tage hinweg die Einfahrt in Häfen verweigert werden wird, damit wir für weitere Rettungsaktionen ausfallen. Das ist genau so gewollt, man will uns mit aller Gewalt das Leben schwermachen. Aber einen Funken Hoffnung habe ich doch, dass es künftig nicht mehr so schlimm wird wie in den letzten Monaten.
Zurück zu Ihrem eigentlichen Job: Was für ein Bild bietet sich, wenn ein Flüchtlingsboot bei Ihnen anlandet?
Da sitzen meist völlig dehydrierte, ausgehungerte Menschen in den Booten, die vor Tagen ohne Nahrung und lediglich mit einer kleinen Flasche Wasser ins Boot gestiegen sind. Außen, bei den Schlauchbooten auf dem Luftring, sitzen meist die Männer, weil sie sich besser festhalten können, da sie kräftiger sind. Innen in der Mitte sind die Frauen und Kinder. So können sie zwar nicht so leicht ins Wasser fallen, aber dafür sind sie meist schwer verletzt. Das liegt daran, dass sich in der Schiffsmitte – ich muss das so deutlich sagen – eine widerliche Brühe aus Benzin, Salzwasser, Kot, Urin und Kotze sammelt. Darin hocken die Frauen und Kinder über Tage und verätzen sich die Haut. Sie haben regelrecht Verbrennungen ersten und zweiten Grades. Als erstes brauchen wir da starke Schmerzmittel, und danach geht es um eine sehr aufwendige Wundbehandlung. In Deutschland haben wir dafür spezielle Wundbetten, das gibt es bei uns an Bord natürlich nicht. Das ist so das allererste, worum wir uns kümmern.
Aber damit allein ist es sicher noch nicht getan?
Nein, dann müssen wir uns um die Schwangeren kümmern. Denn da sind ja oft Frauen im siebten, achten oder sogar neunten Schwangerschaftsmonat auf den Schiffen, die erfordern logischerweise auch sehr viel Aufmerksamkeit. Vor allem, weil sie meist keinen Mann dabei haben, was sehr ungewöhnlich ist, gerade wenn sie aus muslimischen Ländern kommen. Wenn ich dann von den Frauen höre, dass sie vor knapp einem Jahr allein in den Flüchtlingslagern an der nordafrikanischen Küste gestrandet sind, ist klar, warum sie mitten auf der Flucht schwanger geworden sind – auf keinen Fall freiwillig. Das Brutale daran: Damit sie ihr Kind zum Beispiel nicht auf libyschem Boden gebären, werden sie in ihrem Zustand schnell noch in die Schlauchboote gesetzt.
Sind Sie denn auf den Schiffen überhaupt für Verbrennungen und Geburten ausgerüstet?
Also bei den Verletzungen sind wir lediglich für eine Erstbehandlung gerüstet. Wir haben die notwendigsten Medikamente immer für ungefähr 100 Gerettete an Bord und vor allem Mullbinden, Verbandszeug und Salben vorrätig. Für die Reanimation haben wir Sauerstoff an Bord. Das ist so die Grundausrüstung auf allen Schiffen.
Also das, was auch ein Rettungswagen in Deutschland dabei hat.
Ja genau, so lässt sich das ganz gut beschreiben. Allerdings ist der Rettungswagen dann spätestens innerhalb der nächsten halben Stunde in einem Krankenhaus, das sind wir natürlich nicht. Aber es gibt auch Schiffe, die haben ein Ultraschallgerät an Bord oder ein Beatmungsgerät, das ist aber eher die Ausnahme.
Wie lange dauert es dann, bis Sie die notdürftig Versorgten an ihre Kollegen an Land mit mehr Behandlungsmöglichkeiten weitergeben können?
Das kann bis zu drei Wochen dauern. Je nachdem, wie lange das Geschacher um die Flüchtlinge zwischen den europäischen Ländern dauert. Ich nenne das ganz bewusst „Menschen-Schacher", denn es hat keine Würde, Schwerstverletzten und Hochschwangeren jegliche weitere Hilfe zu versagen, während die Behörden an Land wissen, dass wir auf dem Schiff nichts mehr haben, womit wir noch helfen können. Das geht dann ja teilweise so lange, bis der Kapitän den Notfall für sein Schiff erklärt und einfach in einen Hafen einfährt, um Menschenleben zu retten. Aber damit tut er dann natürlich den anderen noch zu Rettenden auf dem Meer auch keinen Gefallen, weil das Schiff vorerst beschlagnahmt wird und wir dann erst einmal nicht mehr rausfahren können.
Was macht diese Erfahrung mit Ihnen als Mensch?
Das macht mich natürlich extrem wütend, weil ich ja auf den Kreuzfahrtschiffen erlebt habe, was möglich ist, wenn wir einen Notfall unter den Passagieren hatten. Da wird alles aufgefahren, und keine Hilfe ist zu kompliziert. Aber wenn von uns ein Notruf kommt, kriegen wir teilweise nicht einmal eine Bestätigung von der Gegenstelle. Aber das ist politisch so gewollt, und darum wird es die Seenotrettung auch noch eine ganze Weile geben. Nicht umsonst hat nun die Evangelische Kirche in Deutschland angekündigt, ein eigenes Schiff für die Seenotrettung im Mittelmeer zu chartern.
Wie lange werden Sie noch dabei sein?
So lange, wie ich das physisch und psychisch durchhalte. Ich sage das so klar, da die Einsätze auf einem Rettungsschiff nicht mit denen in der Notaufnahme in einem Krankenhaus oder auf dem Wagen zu vergleichen sind. Da haben sie dann nach spätestens 48 Stunden Feierabend – auf dem Schiff sind sie mindestens drei Wochen in einem dauernden Alarmzustand. Das geht dann schon reichlich an die Substanz.