Innenminister Horst Seehofer warnt vor einer neuen Flüchtlingskrise und bemüht sich in der EU um Partner für gemeinsame Lösungen.
Italien hat seit dem 5. September eine Innenministerin, die wie ein Gegenprogramm zu ihrem Vorgänger wirkt: Parteilos, aber der sozialdemokratischen PD nahestehend, macht die Karrierebeamtin Luciana Lamorgese sich daran, mit der Haudrauf-Rhetorik des Populisten Matteo Salvini zu brechen, ohne dabei den Kern der restriktiven Flüchtlingspolitik ganz aufzugeben. Von ihr sind keine Twitter-Fotos in Badekleidung zu erwarten, dennoch hält sie an der restriktiven Politik und den Abkommen mit der libyschen Regierung fest, die von Flüchtlingsorganisationen wegen der unmenschlichen Zustände in den dortigen Lagern heftig kritisiert werden. Dabei weiß sie eine große Mehrheit der Italiener hinter sich. Die Ernennung Lamorgeses war aber doch ein deutliches Signal der neuen Koalitionäre in Rom an die anderen Hauptstädte Brüssel, Berlin und Paris: Man ist gesprächsbereit.
Das Signal kam an. Nur zwei Wochen später trafen sich fünf EU-Innenminister, darunter Seehofer, Lamorgese und ihr französischer Kollege Castaner auf Malta und handelten etwas aus, was einen Ausweg weisen könnte aus der verfahrenen Asyl- und Migrationspolitik der EU: Ein Notfall-Verteilmechanismus für Bootsflüchtlinge. Erste Konsequenz: Seither hat Italien seine Häfen wieder für Flüchtlingsschiffe geöffnet.
Horst Seehofer, der sich im Wahlkampf für Zuwanderungsobergrenzen und Kontrollen an Deutschlands Grenzen stark gemacht hatte, bietet nun plötzlich eine Aufnahmequote an, die sich an der Größe des Landes orientiert, also für Deutschland irgendwo zwischen 22 und 25 Prozent. Statt deutschem Alleingang nun also die Einsicht: Es geht nur gemeinsam. Darum die Reisen nach Ankara und Athen und zuletzt das Innenministertreffen in Luxemburg.
Auf den ersten Blick ist Seehofers Angebot nicht neu, sondern folgt der aktuellen Praxis, wie die Flüchtlinge einzelner Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer seit Juli 2018 verteilt wurden. Ähnlich ist auch die Quote von 26 Prozent, die 2016 beschlossen worden war, aber in der Umsetzung scheiterte. Allerdings ergibt sich eine Quote naturgemäß erst aus den Anteilen aller Länder. Und das ist das große Problem: Wer wird mitmachen?
Neue Einsicht: Es geht nur gemeinsam
Die Konflikte innerhalb der EU sind groß: Die Hauptankunftsländer, vor allem Italien und Griechenland, drängen darauf, dass die Länder des Nordens ihnen Flüchtlinge abnehmen. Das aber sieht das herrschende Dublin-System nicht vor. Verantwortlich für das Asylverfahren ist laut „Dublin" immer nur das Land, wo ein Flüchtling oder Migrant als Erstes den EU-Boden betritt.
Ist der Malta-Deal vielleicht der Auftakt zu einer größeren Reform der EU-Asylpolitik? Schon im Juni hatten in Paris 14 Staaten eine „Koalition der Willigen" erklärt. Seehofers ursprüngliche Hoffnung: Einige davon würden sich dem Malta-Deal anschließen. Zweifel sind nach dem jüngsten EU-Innenministertreffen berechtigt, die Begeisterung anderer hält sich in Grenzen. Österreich etwa lehnt die Idee komplett ab.
Seehofer geht ein nicht unerhebliches politisches Risiko ein: Eine Mehrheit der Deutschen ist gegen eine feste Quote. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov lehnen sie 30 Prozent der Befragten „voll und ganz" und 24 Prozent tendenziell ab.
Woher also der plötzliche Elan Seehofers, der Mann, der für Flüchtlingsaktivisten jahrelang eine erklärte Hassfigur war? Zu groß ist offenbar die Sorge vor einer neuen Flüchtlingskrise. Ohne eine gemeinsame europäische Kraftanstrengung und ohne größere Unterstützung für die Länder an der EU-Außengrenze drohe eine Flüchtlingswelle wie 2015 – vielleicht sogar noch eine größere", sagte er. „Das Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen." Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei, der seit 2016 einigermaßen hält, droht zu zerbröseln, nachdem vieles aus Sicht der Türkei nicht so klappt wie erwartet, und zudem aus Syrien neue Massenflucht droht, wenn die Türkei mit ihren militärischen Plänen ernst macht.
Nach dem Regierungswechsel in Italien habe sich nun ein „Fenster der guten Gelegenheit" geöffnet, sagt Mona Lou Günnewig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Nach Jahren der Blockade gibt es beim Thema Migration und Asylpolitik nun eine Chance für einen kleinen Durchbruch" – selbst wenn nur ein Teil der EU mitmacht. Das sei ansonsten ja auch längst Praxis, etwa beim Euro, den es auch nicht in allen EU-Ländern gibt. Ein solches „Europa der zwei Geschwindigkeiten" sei vielmehr ein pragmatischer Ausweg aus der europäischen Asyl-Blockade und ein „Zeichen der Handlungsfähigkeit".
Ob allerdings damit der große Sprung in Richtung einer Reform des Dublin-Abkommens gelingen kann, erscheint zweifelhaft. Dublin gilt zwar weitgehend als gescheitert, es funktioniere „weder in der Theorie, noch in der Praxis", so Günnewig. „Es ist erstens schon prinzipiell ungerecht, das Erst-Ankunftsland mit den Flüchtlingen alleine zu lassen." Es habe aber auch in der Praxis nie verhindern können, dass die meisten Migranten trotzdem in Deutschland Asyl beantragten.
Auch wenn nun Bewegung in die Asylpolitik der EU gekommen ist – das große Dilemma bleibt: Werden Flüchtlinge systematisch in andere Länder verteilt, steigt das Risiko, dass sich wieder neue Flüchtlinge aufmachen. Auch auf den griechischen Inseln stiegen die Flüchtlingszahlen zuletzt wieder, nachdem Athen die völlig überfüllten Lager auf den Inseln etwas entlastet hat.
Flüchtlingsorganisationen leugnen meist die Bedeutung dieser „Pull-Effekte". „Seenotrettung ist wohl nicht ausschlaggebend für Flucht", sagt auch Günnewig. An erster Stelle stehe die schlimme Situation im jeweiligen Heimatland. Dennoch gebe es solche Wirkungen natürlich – vor allem, weil viele Migranten trotz abgelehntem Antrag in Europa erst einmal weiter im Land bleiben.