Unter Politologen, Historikern und Journalisten ist sie die Königsdisziplin: Die Erklärung, woher die Welle der Rechtspopulisten kam und warum diese so erfolgreich sind. Klar: Kein Land ist gleich. Doch für die angelsächsischen Länder gibt es etwas, das den Brexit und Donald Trump zumindest in Ansätzen erklärt. Beruhigend ist das nicht.
Vor einigen Jahren schlug der streitbare und umstrittene US-Intellektuelle Noam Chomsky Wellen, als er die Republikaner in den USA als die weltweit gefährlichste Organisation bezeichnete. Tatsächlich spitzte Chomsky zu, wie fast immer. Er bezog sich damit vor allem auf die Haltung der Republikaner zur Klimafrage, und seine Begründung war, dass die Republikaner mit dem Klimawandel die größte Bedrohung des Planeten beförderten. George W. Bush mag im Vergleich zu Trump vergleichsweise moderat wirken, doch in dieser Frage unterschieden sich die beiden wenig.
Die Republikaner haben ihre Partei nicht Trump ausgeliefert, sie war schon zuvor rechtspopulistisch dominiert. Dies zeigte sich auch an der Tea-Party-Bewegung sowie der trotzigen Verweigerungsopposition, welche die Republikaner während der Obama-Jahre betrieben. In Großbritannien sind die Tories, einst als Pragmatiker bekannt, inzwischen eine rechtspopulistische Partei geworden, die im Europäischen Parlament – wenigstens ein paar Monate lang – mit der AfD in einer Fraktion saß. Ein gefährlicher, chauvinistischer Nationalismus feiert bei angelsächsischen Konservativen seit Jahren fröhliche Urständ. Wieso eigentlich?
Der Grund für diese Wiedergeburt des Nationalismus liegt zu einem wesentlichen Teil an der Natur konservativer Parteien in Großbritannien und den USA. Der Konservatismus kam in beiden Ländern lange ohne expliziten Bezug auf christliche Werte aus. Der angelsächsische Konservatismus suchte nur bedingt den Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital, der christdemokratische Parteien auf dem europäischen Kontinent in weiten Teilen prägt. US-Republikaner und die britischen Tories standen sehr viel länger und intensiver für einen ungezügelten Kapitalismus. Dies wurde besonders deutlich an dessen Symbolfiguren, Ronald Reagan und Margaret Thatcher.
Stehen für ungezügelten Kapitalismus
Hatten Tories und Republikaner nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest für kurze Zeit dem Anschein nach, jeweils eine ganze Gesellschaft mit all ihren Schichten im Blick gehabt – in Großbritannien bekannt unter dem Stichwort „one nation conservatism" – so zerschnitten Thatcher und Reagan kurzerhand das Tischtuch. Nicht mehr der Ausgleich mit Gewerkschaften und Sozialverbänden bestimmte ihre Politik, sondern die immer schärfere Eskalation gesellschaftlicher Konflikte, die sie zuspitzten und anheizten. Zugleich änderten Thatcher und Reagan den Tonfall erheblich. Beide verklärten den eiskalten Egoismus und die blanke Gier zu Tugenden. Wenn jeder an sich selbst dächte, so sei an alle gedacht. Mochte Thatchers persönlicher, von Bescheidenheit geprägter Lebensstil diesem Mantra noch so sehr widersprechen, sie machte die Gier, und noch sehr viel mehr, hoffähig. Thatcher und Reagan zerschlugen Gemeinschaften und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Arbeiterklasse. Bruce Springsteens Songs zeugen noch heute vom Niedergang des industriellen Nordens unter Reagan. Filme wie „Billy Elliot – I Will Dance" und „Brassed Off" zeigen Ähnliches für das Vereinigte Königreich. Thatcher und Reagan schufen neue Feindbilder oder reaktivierten alte.
Thatchers krankhafter Hass gegen die Deutschen und ihr tiefes Misstrauen gegen das restliche Europa reaktivierte in der britischen Gesellschaft längst ausgestorben geglaubte Vorurteile. Binnen weniger Jahre schaffte es Thatcher, dass Misstrauen, Ablehnung und ein regierungsoffizielles Überlegenheitsgefühl vielerorts das Interesse am Ausland ersetzten. Wer an Abstiegsängsten unter Thatcher litt, dem blieb der Hass gegen Europa und das Ausland. Wer unter Reagan Sorge haben musste, bald niemand mehr zu sein, dem blieb die Hoffnung auf schnelles Geld oder wenigstens die Konfrontation im neu aufflackernden Kalten Krieg.
Nun ließe sich einwenden, dass daran wenig neu ist. Aus europäischer Sicht wirken der US-Patriotismus und der Nationalismus schon lange bestenfalls wie aus der Zeit gefallen, der schulische Fahnenappell geradezu gruselig. Die Überhöhung der eigenen Nation musste Reagan nicht erfinden. Auch über Thatchers radikale Marktideologie haben genügend Wissenschaftler Tinte vergossen. Doch die Frage bleibt, wieso der britische und der amerikanische Konservatismus den Weg des Populismus und Nationalismus so zielstrebig fortsetzten, während etwa die CDU eben diesen Weg nicht ging.
Die Antwort ist banal: Wegen ihres Erfolgs. Die britischen Tories wie auch die Republikaner haben mit Thatcher und Reagan in wirtschaftspolitischer Hinsicht schlicht das Maximum erreicht. Nach Thatcher und Reagan gab es in puncto Wirtschafts- und Sozialpolitischer kaum noch ein Betätigungsfeld. Das Tafelsilber war verkauft, der Feind (sprich Gewerkschaften, Sozialisten) besiegt. In den 90er-Jahren orientierten sich auch noch die meisten sozialdemokratischen oder moderat linken Parteien an den marktradikalen Programmen der Konservativen und Neoliberalen – die US-Demokraten und die britische Labour Party stellten dabei keine Ausnahme dar.
Maulheldentum und trotziger Opferkult
Was also blieb den Konservativen übrig? Der Weg immer weiter nach rechts, in die Identitätspolitik, in die wohlbekannte Mischung aus Maulheldentum und trotzigem Opferkult. Hatte der große Soziologe Ralf Dahrendorf den Sozialdemokraten noch attestiert, sich zu Tode gesiegt zu haben und Opfer ihres eigenen politischen Erfolgs geworden zu sein, so traf die Konservativen in den USA und Großbritannien nach dem Ende der Ära Thatcher und Reagan das gleiche Schicksal: Sie hatten schlicht alles erreicht, was es für sie zu erreichen gab.
Aus diesen Gründen ist es kaum verwunderlich, dass die Republikaner und die Tories neue Projekte brauchten. Das nationalistische Feindbild funktionierte und funktioniert nach wie vor. Während in den USA die Tea Party immer mehr an Unterstützung gewann, machte auf den britischen Hinterbänken ein besonders rechter Eurogegner von sich reden, der umso mehr zum Euroskeptiker herabgestuft wurde, je näher er dem Zentrum der Macht kam: David Cameron.
Als Cameron schließlich Parteivorsitzender der Tories wurde, hatte ihm das Ticket „Eurogegner" ebenso sehr bei seiner Karriere geholfen wie seinem Freund aus Jugendzeiten, Boris Johnson. Sie waren und sind die Vehikel, nicht mehr und nicht weniger. Beide sind Schauspieler. Es drängt sich daher die Warnung von Karl Marx auf, die unbestreitbare Bedeutung von Schauspielern nicht zum Anlass zu nehmen, ihre Rolle mit jener von Regisseuren zu verwechseln.
Somit bleibt die Frage, wer in diesem Drama – oder ist es eine Schmierenkomödie? – denn eigentlich die Regieanweisungen gibt. Die ebenso schlichte wie traurige Antwort lautet: vermutlich niemand. Um bei Karl Marx zu bleiben: Dessen Anhänger würden wohl darauf verweisen, dass die Brexit-Kampagne von geradezu obszön Reichen wie Arron Banks finanziert worden sei, während hinter den rechtspopulistischen Republikanern nicht minder obszön Reiche wie Charles G. und dessen jüngst verstorbener Bruder David H. Koch stünden. Banks und die Koch-Brüder profitieren natürlich auch direkt von der Umsetzung jener Politik, die sie unterstützen. Doch gab es solche Spender auch früher schon, ohne dass die Parteien ihnen deshalb ganz verfielen.
Nein, den Versuch, diese Art von Regie zu führen, ist nicht neu. Der Unterschied besteht eher darin, dass das Publikum im Zeitalter sozialer Netzwerke und Medien nun bereit ist, die rechte Show mit der harten Währung „Aufmerksamkeit" zu bezahlen. Der Unterschied besteht aber auch darin, dass politische Parteien bereit sind, Hasardeure und Vabanquespieler in die Chefsessel zu hieven sowie Rassismus und Sexismus zum vermeintlichen Entertainment mit Gruselfaktor werden zu lassen.