Bürger werden entwurzelt und zu zahlenden Miet-Einwohnern gemacht
Der Herr Seehofer hat sich zum Ende seiner politischen Karriere noch einmal eine Menge Arbeit aufgehalst. So ist er zum Beispiel Heimat-Minister. Wohl wäre er vielleicht statt des Herrn Scheuer ein besserer Verkehrsminister, denn Seehofer hat immerhin eine Modell-Eisenbahn im Keller.
Also, was macht der Heimat-Horst? Was ist Heimat? Die Antwort fanden wir woanders. Im saarländischen Neunkirchen soll ein 70 Meter hohes Gebäude abgerissen werden. Der 1970 errichtete Gasometer ist ein Wahrzeichen der Stahlstadt und wird den Interessen der Wirtschaft geopfert. Dieser Gasometer ist einmalig, das neue Einkaufscenter, die neue Tankstelle, die neue Waschanlage sind es nicht. Mit dem Abriss geht ein Stück der urbanen Identität verloren. Das ist kein Einzelfall.
Nach der sogenannten politischen Wende strömten die ersten Touristen zum Beispiel nach Dresden, wo sie in dem Café am Altmarkt an der Wilsdruffer Straße ein vier Meter langes Relief aus Dresdner Porzellan bewundern durften. Wollten sie auf der Terrasse die Sonne genießen, raunzte sie der in der DDR sozialisierte Kellner an: „Draußen nur Kännchen." Es wurde in Kauf genommen. Es dauerte nur wenige Monate, bis dieses Café nicht mehr rentabel war und einem weltweit agierenden Frikadellen-Brater wich.
Auf der Suche nach Erklärungen für ostdeutsche Befindlichkeiten kamen wir darauf, dass viele Menschen entwurzelt wurden. So war in einer TV-Doku zu erfahren, dass eine ältere Dame jenseits der 70 ihre Wohnung wechseln musste, weil Immobilien-Haie den Wohnblock geschluckt hatten. Mehr als 40 Jahre habe sie dort gelebt, kannte sich in ihrem Umfeld aus, hatte dort ihre sozialen Kontakte. Nun vegetiert sie völlig vereinsamt weit weg von ihrer wirklichen Heimat.
Wenn jetzt Politiker angesichts der Wahlergebnisse den „ländlichen Raum" entdeckt haben, ist oft von Investitionen zu hören und zu lesen. Aber das ist doch zweitrangig. Menschen – nicht nur im Osten – hatten sich eingerichtet in ihrem Umfeld und waren damit zufrieden. So wusste jeder Berliner, dass er mit der U- oder S-Bahn bis zum Bahnhof „Unter den Linden" zu fahren hatte, wollte er zum Brandenburger Tor.
Offensichtlich waren es Touristik-Experten der Hauptstadt, die urplötzlich den Bahnhof „Brandenburger Tor" nannten. Wahrscheinlich hielten sie Touristen für zu blöd, sich den Linden-Namen zu merken. Es wird weiter jahrelang gebuddelt in Berlin, und eines Tages soll es auf der neuen Strecke zum Alexanderplatz dann auch wieder einen Haltepunkt „Unter den Linden geben".
Geradezu manisch wird geschichtsversessen – oder eher geschichtsvergessen – das Preußentum wiederbelebt. Stadt-Schloss, Humboldt-Forum, Baulärm. Es gibt noch jahrelang schönere Urlaubsziele. Ach, muss das schön gewesen sein, als Heinrich Heine unter den Linden flanierte, die koketten Mädchen mit den Papier-Mohnblumen auf der linken Schulter beäugte und 1824 schrieb: „Blamier mich nicht, mein Kind, und grüß mich nicht unter den Linden. Wenn wir nachher zu Hause sind, wird sich alles finden."
In Berlin finden wir nicht mehr alles aus der Vergangenheit. Die Kieze ähneln immer mehr Zeltlagern aus Beton. Politiker streiten sich, wer die besseren Konzepte für die Bürger hat. Dabei gibt es angesichts der Immobilien-Krise fast nur noch Einwohner, die sich in ihre Wohn-Waben verziehen. Bürger, die sich im Sinne der griechischen Polis, an ihre Stadt, ihre Heimat binden, kann es nur noch wenige geben. Im Mittelalter entstand ein solches Bürgertum, wo Reiche neben Armen lebten. Der ältere Breughel hat das wunderbar gemalt.
Eine noch so ernsthafte Stadtplanung kann die verlorene Heimat nicht zurückbringen. Martin Mosebach, Träger des Georg-Büchner-Preises, schrieb vor fünf Jahren: „Was eine Stadt ausmacht, kann nicht eingeplant werden." Im Ruhrgebiet lässt sich das auch feststellen: zubetonierte Städte mit immer gleichen Handelsketten. Da wissen wir manchmal nicht, ob wir in Dortmund oder in Duisburg sind.
Oder in Bochum, wo einst der Barde Herbert Grönemeyer einen schönen Satz formulierte: „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl."