Nach dem Anschlag in Halle gerät das ideologische Umfeld des Täters in den Fokus. Wie dieses aussieht, kennen Nazi-Aussteiger wie Christian E. Weißgerber gut. Er beschreibt, wie Alltagsrassismus und bestimmte Männlichkeitsvorstellungen in seiner Jugend im ostdeutschen Arbeitermilieu seinen Weg in die Neonaziszene ebneten.
Herr Weißgerber, Sie sind zur Nachwendezeit in Eisenach aufgewachsen. Gibt es aus Ihrer Sicht Unterschiede zwischen Ost und West bei der politischen Radikalisierung?
Was aus meiner Sicht meine Jugendzeit ausgezeichnet hat, waren häusliche Gewalt, Armut und eine Schule, die sich wenig um Rassismus gekümmert hat. Dass man das Thema nicht so ernst nimmt oder an manchen Stellen auch totschweigt. Außer einigen wenigen sehr engagierten Lehrerinnen und Lehrern. Das ist nichts, was es nicht im Westen genauso geben könnte. Die Neonazi-Strukturen sind dieselben, in die man auf die eine oder andere Weise hineingerät. Das ist kein vermeintlich ostdeutsches Problem. Das hätte genauso im Westen passieren können. Die größte Nazi-Hochburg in Deutschland befindet sich übrigens im Westen, nicht im Osten, in Dortmund-Dorstfeld.
Was hat Sie damals an den Neonazis fasziniert?
Ich fand Nazis, sowohl die historischen als auch die Neonazis, wann immer ich auf sie getroffen bin, faszinierend und spannend. Auch dass man sich vor denen gefürchtet hat, fand ich spannend. Es ist durchaus so, dass ich in meiner Jugendzeit relativ früh Krisenerlebnisse, Ohnmachtsgefühle hatte. Eine Möglichkeit daraus auszubrechen, war, indem ich andere Leute erniedrigt habe. Zum anderen aber auch, mich dadurch zu erheben, indem ich angefangen habe, mich mit Nazimusik zu beschäftigen, aber auch mit geschichtsrevisionistischen oder Verschwörungs-Geschichten, die dazu geführt haben, dass ich dafür eine bestimmte Anerkennung erhalten habe.
Sind Sie in der Schule von Pädagogen auf Ihre politische Einstellung angesprochen worden?
Ja, durchaus. Die Deutschlehrerin wollte über einen rassistischen Beitrag, den ich von mir gegeben habe, aufklären. Ein anderer Lehrer hat immer wieder versucht mich darauf hinzuweisen. Das hatte aber, wenn es öffentlich vor der ganzen Klasse passierte, den gegenteiligen Effekt. In der von Jungs dominierten Klasse war es etwas Cooles, von den Lehrerinnen und Lehrern an den Pranger gestellt zu werden. Die Lehrer waren gezwungen, gegen mich zu moralisieren. Das ist schon damals ein Erfolgsrezept für rechte Politik gewesen. Es gab auch den Versuch, mit mir in Gespräche zu kommen, zum Beispiel von meiner Geschichtslehrerin. Aber damals war ich der Meinung, dass die Lehrerin umerzogen ist, Teil des Besatzungsregimes, des Establishments. Es war relativ schwierig, da noch einen Zugang zu mir zu finden.
Welche Rolle hat Ihr Elternhaus gespielt? Sie schreiben in Ihrem Buch über Gewalt.
Es sind verschiedene Faktoren wichtig gewesen. Die Art und Weise, wie ich und meine Schwester erzogen wurden, die Art wie man mit Problemen umgeht. Meine Schwester ist da ganz anders mit umgegangen als ich. Und das ist mir wichtig zu betonen: Allein ein zerbrochenes Elternhaus mit häuslicher Gewalt, ist noch keine Notwendigkeit, ein Nazi zu werden. Es gibt viele Leute, die häusliche Gewalt erfahren haben und sie heute noch erfahren, und die trotzdem keine Nazis werden. Das Elternhaus hat eine wichtige Rolle gespielt und die Vorstellung, wie Politik funktioniert, vermeintliche Regeln und Werte hochzuhalten. Dass Gewalt eine Möglichkeit ist. Aber ich würde die Rolle nicht übertreiben wollen. Es gab eben auch die Schule, es gab auch andere kulturelle Faktoren, die dazu beigetragen haben.
Haben rechte Gruppen Einfluss in der Umweltbewegung?
Ja und nein. Diejenigen Nazis und extremen Rechten, die an den Klimawandel glauben, werden auch versuchen, sich dort festzusetzen. Ohne Frage, das passiert ja heute schon. Es gibt ultrakonservative Menschen, die sich zum Klima äußern. Es gibt aber auch einige, die den Klimawandel schlichtweg leugnen. Das ist bei der AfD so, das ist bei den Identitären so.
Gab es einen Zeitpunkt, wo Sie Ihrer eigenen Überzeugung nicht mehr vertraut haben? Einen Punkt, wo der Rückzug aus der Szene begann?
Nicht einen Punkt, sondern halt sehr viele verschiedene. Man merkt es im Leben, wenn man an vielen verschiedenen Ecken anstößt und dann daraus folgert: Da muss ich jetzt was verändern. Ich kann und will das nicht an einem Punkt benennen, weil ich mir da selber widersprechen würde. Außerdem weil da bei den Leuten dann hängen bleibt: Aha, das war der eine Moment, den er im Interview genannt hat. Also müsste ich alle Nazis nur in die Situation bringen, diesen Moment zu erleben, dann steigen sie aus. Es gab natürlich Zweifel, Enttäuschungsmomente über die Sachen die wir machen wollten. Wir wollten eine sehr spezielle rechte Bewegung sein. Ich habe Zweifel bei mir gesehen, die über einen längeren Zeitraum angehalten haben. So haben wir gesagt, wir machen jetzt nicht weiter, das macht so keinen Sinn. Danach kam es erst, dass ich mich als Aktiver distanziert habe. Das hat dann ewig lang gedauert, das war ein Prozess von mehreren Jahren. Es hat ja auch mehrere Jahre gedauert, bis ich ein ausgewachsener Nazi war.
Sie halten Vorträge an Universitäten und Schulen zu dem Thema. Wie anfällig sind junge Menschen heute für rechtes Gedankengut? Ist es hip, rechts zu sein?
Das kommt sehr darauf an, wie die Schule, auch wie die Klassen damit umgehen. In manchen Schulen gibt es sehr viele Menschen, die dafür sorgen, dass man Rechts als hip und cool annimmt. Es gibt aber auch viele Schulen, bei denen ist das nicht so. Ich glaube, dass rechtes Gedankengut bei jungen Menschen verfängt, wenn es vermehrt von älteren Menschen vertreten wird. Das zeigen auch Statistiken, die es über die AfD gibt. Es sind vor allem Männer über 40, die sie wählen und die sich zudem äußerst bevormundend gegenüber jungen Menschen zum Beispiel von Fridays for Future positionieren. Aber es gibt keine zahlenmäßig ernst zu nehmenden rechten Jugendbewegungen, die nachrücken.
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen: Welche Bedeutung wird die rechte Szene in Deutschland haben?
Das kommt ganz darauf an, wie wir darauf reagieren. Sei es mit Präventionsarbeit oder dem Vorgehen gegen Leute, die in der Szene aktiv sind. Man muss einerseits mehr Präventionsarbeit machen, andererseits müssen auch die Staatsapparate eingreifen. Das große Problem mit der AfD ist nicht einfach nur, dass sie im Parlament sitzt und irgendwelchen Blödsinn und falsche Nachrichten verbreitet. Die Identitären haben von der AfD das patriotische Haus in Halle zur Verfügung gestellt bekommen. Es werden viele Räume geschaffen, wo die nächste Generation extrem Rechter herangezüchtet wird. Wenn dann eine wehrhafte Demokratie nicht dagegen vorgeht, dann ist das unter Umständen tödlich.
Wie sieht es denn mit Ihrer persönlichen Sicherheit aus?
Wir leben leider heute in einer Zeit, in der Menschen, die auf eine sinnvolle Weise gegen bestimmte Formen von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Co vorgehen, mit Morddrohungen, Vergewaltigungsfantasien übers Internet und physischen Bedrohungen im Alltag konfrontiert sind. Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die ganze Zeit in der Schusslinie. Ich würde zwar keinen Kurzurlaub in Dortmund-Dorstfeld machen wollen, fürchte aber auch nicht jeden Tag unentwegt um mein Leben.