Einen derart turbulenten Sommer hat die NBA schon lang nicht mehr erlebt. Zahlreiche Topstars wechselten den Verein und sorgten damit für ganz neue Kräfteverhältnisse in der nordamerikanischen Basketball-Profiliga. Die Ära der Golden State Warriors scheint vorbei, stattdessen träumen gleich zwei Teams aus Los Angeles vom Titel.
Im Frühjahr hat Dirk Nowitzki seine Karriere beendet. Das Geschehen in der NBA verfolgt Deutschlands bester Basketballer aller Zeiten allerdings immer noch ganz genau und kam dabei in diesem Sommer aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Ich bin seit drei Wochen in Europa, und jeden Morgen, wenn ich das Handy anmache, gibt es wieder irgendeine Knaller-Nachricht“, sagte Nowitzki im Juli nach dem von ihm mitorganisierten Benefiz-Fußballspiel „Champions for Charity“. In 20 Jahren hätte er keine solch turbulente Off-Season erlebt, wie sie sich im Sommer 2019 in der nordamerikanischen Basketball-Profiliga abgespielt hat. Es war wahrlich ein Sommer der Superlative. Zahlreiche Topstars wechselten den Verein und sorgten damit für ganz neue Kräfteverhältnisse in der Liga. Das Transferfenster war gerade zwei Minuten geöffnet, als Kevin Durant den Anfang machte und via Instagram seinen Wechsel von den Golden State Warriors zu den Brooklyn Nets bestätigte. Und es dauerte nicht lange, bis das Wechselkarussell so richtig heiß lief: Allein in den ersten sechs Stunden der Wechselperiode wurden von den Vereinen Spielerverträge in Höhe von drei Milliarden Dollar abgeschlossen.
Durant und Kyrie Irving gingen nach Brooklyn, Mike Conley nach Utah, Kemba Walker zu den Boston Celtics, Al Horford zu den Philadelphia 76ers, Anthony Davis zu den Lakers sowie Kawhi Leonard und Paul George zu den Clippers nach Los Angeles. Und schließlich: Russell Westbrook aus Oklahoma zu den Houston Rockets. Mit Moritz Wagner und Isaac Bonga, die beide von den Los Angeles Lakers an die Washington Wizards abgegeben wurden, spielen auch zwei deutsche Spieler künftig für andere Farben.
Die Liste der spektakulären Transfers ließe sich noch beliebig erweitern. Die Folge: „Es gibt nicht mehr das eine Superteam, dafür aber eine gehörige Anzahl an Superstar-Duos“, wie Basketball-Experte Robin Wigger auf Sport 1 kommentierte. Was wiederum bedeutet, dass sich die Fans in der neuen Spielzeit ab 22. Oktober auf einen spannenden Titelkampf freuen dürfen. Die Experten trauen dieses Mal bis zu zehn Mannschaften zu, dass sie im Kampf um die Meisterschaft ein Wörtchen mitreden können.
Vorbei sind die Zeiten, in denen die Golden State Warriors die NBA dominierten. Dreimal in den vergangenen fünf Jahren hatten die Kalifornier den Titel gewonnen, das Finale erreichten sie in diesem Zeitraum sogar jedes Mal. Die Saison 2015/16 schlossen sie mit einer Bilanz von 73:9 Siegen ab, der besten in der NBA-Historie. Es war eine glanzvolle Ära, vergleichbar mit denen der Boston Celtics in den 1960ern und 1970ern, der Chicago Bulls in den 1990ern oder der Los Angeles Lakers zwischen 2000 und 2010. Auch in der vergangenen Saison schafften es die Warriors erneut ins Endspiel, mussten sich dort allerdings den Toronto Raptors geschlagen geben, die 2019 erstmals den Titel holten. Die Verletzungen von Kevin Durant und Klay Thompson waren für den Ex-Champion dieses Mal nicht zu kompensieren.
Nowitzki begeistert von Transfers
Thompson wird auch in dieser Saison noch mindestens bis zum All-Star-Break im Februar ausfallen, Kevin Durant hat den Club wie schon erwähnt gleich ganz verlassen und trägt künftig das Trikot der Brooklyn Nets. Auch bei ihm ist unklar, wann er wieder eingreifen kann. Nachdem es zunächst hieß, Durant werde nach seinem Achillessehnenriss die gesamte Saison verpassen, besteht inzwischen Hoffnung, dass er bereits im Februar oder März wieder einsatzbereit sein könnte. „Ich weiß, dass KD seine Reha sehr ernst nimmt. Er will so schnell wie möglich zurückkommen, sobald es angemessen und er gesund ist“, sagte sein Teamkollege Spencer Dinwiddie der „New York Post“. Mit einem gesunden Durant, Kylie Irving sowie dem ebenfalls neu verpflichteten DeAndre Jordan wären die Nets dann spätestens im nächsten Jahr einer der ersten Titelanwärter. Der Rummel um die Mannschaft ist aber schon jetzt riesig, zum Media Day erschienen gleich 200 Medienvertreter in Brooklyn. Trainer Kenny Atkinson meinte: „Nun, es waren ziemlich viele Leute da. Im ersten Jahr hätte man hier noch die Grillen zirpen hören können. Dann habe ich gemerkt, dass beim Rausfahren alle möglichen Leute vor unserer Trainingshalle stehen. Es ist wie bei Real Madrid. Ich fand das witzig. Es gibt eine ganz andere Vorfreude bei den Fans. Sie hatten zwar kein richtiges Camp errichtet, aber ein Zelt habe ich gesehen.“
Während die Anhänger der Nets in dieser Saison wohl noch auf den ganz großen Wurf verzichten müssen, soll bei den Los Angeles Clippers bereits jetzt der Titel herausspringen. Mit der Verpflichtung von Kawhi Leonard, im Finale 2019 noch der überragende Spieler bei Meister Toronto, sowie von Paul George von den Oklahoma City Thunder sind die Clippers neben Brooklyn der zweite große Gewinner der vergangenen Off-Season.
Spektakuläre Spielzeit?
Bereits in der letzten Saison lieferte der Club Golden State in den Play-offs einen harten Kampf, musste sich damals aber nach sechs engen Spielen knapp geschlagen geben. Mit der Ankunft von Leonard und George streben die Clippers nun nach ganz anderen Sphären, zumal beide zu ihrer Unterstützung ja auch noch Lou Williams haben, der in der vergangenen Saison erst als zweiter Spieler der NBA-Geschichte bereits zum dritten Mal die Auszeichnung als bester sechster Spieler der Liga erhielt. Für die Clippers spricht außerdem, dass sich ihre Superstars – anders als beispielsweise James Harden von den Houston Rockets – nicht zu schade sind, auch in der Defensive zuzupacken. Kawhi Leonard gewann sogar schon zweimal den Titel als bester Defensivspieler des Jahres; und auch Paul George stand bereits viermal im NBA All-Defensive-Team und war zuletzt mit 2,2 Steals pro Partie der erfolgreichste Ballklauer der Liga.
Für Begeisterungsstürme hat das neue Clippers-Team in Los Angeles allerdings nicht gesorgt. Im Gegenteil: Als sich Paul George Ende September bei einem Mixed-Martial-Arts-Event blicken ließ und Kawhi Leonard einen Tag später das Heimspiel des örtlichen NFL-Footballclubs Los Angeles Rams besuchte, wurden beide von den Zuschauern gnadenlos ausgebuht. Viele von ihnen hätten Leonard und George wohl lieber im Trikot des anderen NBA-Vertreters der Stadt gesehen, den Los Angeles Lakers. Die Lakers sind in Los Angeles seit jeher die Nummer eins, nicht bloß sportlich. Zwölfmal holte der Club den Titel – die Clippers dagegen schafften es bislang noch nicht einmal ins Conference-Finale. Ein Blick ins Staples Center, in dem beide Vereine ihre Heimspiele austragen, verdeutlicht die Situation: Das Wandbild zum 20-jährigen Bestehen der Arena zeigt die Ex-Lakers-Stars Kobe Bryant und Shaquille O’Neal, wie sie nach den NBA-Finals 2000 den Titel bejubeln, Basketballerin Lisa Leslie nach den WNBA-Finals 2002, Eishockeyspieler Anze Kopitar von den Los Angeles Kings beim Gewinn des Stanley Cups 2014 sowie Szenen vom Wrestling und von den Grammys. Die Clippers dagegen spielen in dem Wandgemälde nur eine Nebenrolle.
Auch in dieser Saison müssen sie auf dem Weg zum Titel und zu mehr Aufmerksamkeit erst einmal den Lokalrivalen aus dem Weg räumen. Denn die Lakers zählen ebenfalls wieder zum Kreis der Titelfavoriten, seit sie LeBron James im Sommer mit Anthony Davis von den New Orleans Pelicans endlich einen zweiten Superstar an die Seite gestellt haben. Die Lokalderbys in Los Angeles versprechen schon jetzt Basketball auf höchstem Niveau, sie zählen zu den Höhepunkten der Saison. Ob der neue Champion dann aber wirklich von der Westküste kommt, bleibt abzuwarten. Zwar musste neben Golden State auch der amtierende Champion aus Toronto Federn lassen und dürfte deshalb kaum in der Lage sein, seinen Titel zu verteidigen. Mit den Milwaukee Bucks als vermutlich stärkstem Team der Eastern Conference sowie den Houston Rockets und Utah Jazz im Westen gibt es aber noch einige andere Kandidaten für den Thron. Die turbulente Wechselperiode im Sommer soll erst der Auftakt gewesen sein für eine noch spektakulärere Spielzeit.