Der Canal du Centre in der belgischen Provinz Hennegau war einst ein wichtiger Transportweg für die Binnenschifffahrt. Heute zieht es viele Touristen dorthin. Denn entlang des historischen Kanals lassen sich vier hydraulische Schiffshebewerke entdecken. Am besten auf einem Schiff.
Mitten in der belgischen Provinz Hennegau scheint ein riesiges Raumschiff gelandet zu sein. Unwirklich, so als wäre es nicht von dieser Welt, wirkt das schwarz-sandsteinfarbene Schiffshebewerk in Strėpy-Thieu. Es ist kühl, der Himmel wolkenverhangen. Mit meinem fünfjährigen technikbegeisterten Sohn habe ich 315 Kilometer mit dem Auto zurückgelegt. Nun stehen wir vor diesem Meisterwerk der Schifffahrtstechnik und kommen uns selbst auf einmal klein und nichtig vor.
120 Meter ragt das elektromechanische Hebewerk empor, eingebettet in eine terrassenförmige Hügellandschaft mit vielen Bäumen. In zwei großen Trögen werden Binnenschiffe zeitgleich in die Höhe oder Tiefe gehoben, dabei überwinden sie einen Höhenunterschied von 73 Metern. Das monströse Bauwerk aus Stahl trumpft noch mit einem Superlativ auf: Es gilt als das größte Doppel-Schiffshebewerk der Welt. 40.000 zahlende Besucher zieht es jedes Jahr im Durchschnitt hierher. Nur am Drei-Schluchten-Damm des Jangtse-Flusses in China steht ein noch höherer Schiffsaufzug, der 113 Meter in der Vertikale pro Einzelschiff überwindet.
Kanal wird heute touristisch genutzt
Auf uns wartet eine zweistündige geführte Schiffstour durch den historischen Canal du Centre. Der schmale, sieben Kilometer lange Kanal, der heute nur noch von Jachten und für touristische Bootsfahrten genutzt wird, ist bekannt für seine bis heute in Takt gebliebenen vier hydraulischen Hebewerke und verschiedene Brücken. Vor gut zehn Jahren nahm die Unesco den historischen Kanal, die vier Hebewerke und die dazugehörigen Maschinenräume in die Liste der Weltkulturerbestätten auf.
Das futuristisch anmutende, moderne Schiffshebewerk betreten wir allerdings nur kurz, um uns anzumelden. Eine Fahrt mit dem Riesenfahrstuhl erleben wir nicht, da dafür gesonderte Bootsfahrten vorgesehen sind, die aber wegen der begrenzten Kapazität der Schiffe nur einmal monatlich stattfinden. Draußen vor dem Eingang parken zwei Bimmelbahnen, die in jedem größeren Urlaubsort Touristen durch die Gegend kutschieren. Also, eingestiegen in das Gefährt und los geht die Fahrt zu der Schiffsanlegestelle, wobei der Ruckelfaktor auf einer Skala von eins bis zehn etwa bei sieben liegt. Das stählerne Monstrum lassen wir zurück und zuckeln bergauf durch die Straßen des ruhigen Örtchens. Bald erreichen wir den Canal du Centre, an dem entlang beiderseits schattige Wege zum Radfahren und Wandern einladen. Im Vorbeifahren erhaschen wir Eindrücke von den verschachtelten, winzigen Häusern von Strépy-Bracquegnies.
Die Touristenbahn macht Halt vor einem roten Backsteingebäude mit zwei kleinen Türmen. Unsere Guide Fleur de Mylle, eine junge Frau mit Brille und kinnlangen Haaren, stellt sich kurz vor und beschreitet als Erste die Treppen in dem schwach beleuchteten Maschinenraum. Die bunt gemischte Touristengruppe folgt ihr auf dem Fuße. Während die Besucher erhöht und rings um das Geländer stehen, spricht unsere Gästeführerin aus dem tiefer liegenden Raum, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Alle Maschinen stehen noch unverändert seit 1913 da. „Der historische Canal du Centre zählt vier hydraulische Hebewerke. Wir befinden uns hier im Maschinenraum der Hebewerke zwei und drei. Weil beide in unmittelbarer Nähe zueinander liegen, benötigen sie nur einen Maschinenraum", erzählt de Mylle der Reihe nach auf Niederländisch, Französisch und Englisch. Bald darauf geht die Gruppe nach draußen. Schließlich liegt nur wenige Meter vom Maschinenraum entfernt das für uns reservierte Ausflugsschiff vor Anker.
Maschinenraum seit 1913 unverändert
An Deck des Schiffes fällt gleich eines auf: Nimmt man am Oberdeck auf deutschen Ausflugsbooten rechts und links auf Sitzgelegenheiten und außerdem meist an Tischen Platz, sitzt man auf belgischen in langen vertikal verlaufenden Reihen nebeneinander und quasi Rücken an Rücken. Denn während die einen nach Steuerbord blicken, schauen die anderen nach Backbord. Ansonsten hat das Schiff den gleichen Service wie auf deutschen Ausflugsbooten: eine Bar, an der Getränke und Snacks verkauft werden. Fleur de Mylle informiert uns über die Route: Zuerst werden wir an alten Zieh- und Drehbrücken vorbeifahren, dann durch ein hydraulisches Hebewerk in Thieu geschleust und zum Schluss durch die Knotenschleuse zwischen dem historischen und dem neuen Canal du Centre fahren.
In gemächlichem Tempo schippert das Schiff durch den Kanal. Eine Entenfamilie weicht uns aus, indem sie ganz nah an den Kanalrand heranschwimmt. Eine ältere Frau aus der französischsprachigen Wallonie kümmert sich um einen deutschen Jungen, der neben ihr sitzt. Sie hilft ihm, die Kapuze seines Pullovers über seinen Kopf zu ziehen, und holt für ihn eine Handvoll Chips – offenbar von ihrem Enkelsohn, der ein paar Meter weiter sitzt. Unsere Guide weist uns darauf hin, dass nur auf einer Seite des historischen Kanals die Straße asphaltiert ist. Bis in die 20er-Jahre waren Schiffe noch nicht motorisiert, weshalb sie von der asphaltierten Seite aus mit Seilen gezogen werden mussten. „Die Schiffe wurden von Pferden, aber auch von Menschen gezogen. Die meiste Zeit hatte die Frau des Kapitäns dieses Privileg. Manchmal mussten sogar die Kinder aushelfen", sagt Fleur de Mylle. Halb amüsiert, halb fassungslos lachen die ältere Belgierin und die zwei Frauen links neben ihr über diese ungerechte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Allmählich nähert sich das Ausflugsschiff der schmalen Drehbrücke.
Kurz zuvor waren wir an einer der zwei historischen Ziehbrücken vorbeigeschippert, die wir auf der Hinfahrt bereits wegen falschen Abbiegens überquert hatten. Ein jüngerer sportlicher Mann hatte auf der Uferseite backbord an einem Eisenrad gedreht, um die Gegengewichte zu lösen. Währenddessen drückte neben ihm ein anderer Brückenwärter die Gegengewichte herunter. Auf der drehbaren Brücke stehen wenig später die zwei Brückenwärter in der Mitte. Der eine kurbelt, was das Zeug hält, und der andere drückt mit voller Kraft gegen das Eisengeländer zu der Seite, die sich nicht dreht. Derweil erfrischen sich viele Passagiere an Deck des Schiffes mit Bier, Wein oder Softdrinks. „Dank einer Kurbel dreht sich das Deck um die eigene Achse mit einem Durchmesser von 20 Zentimetern. Das Deck der Brücke wiegt 33 Tonnen und befindet sich in einem perfekten Gleichgewicht", sagt Fleur de Mylle, während die Brücke langsam aus unserem Blickfeld schwindet.
Zwei Brückenwärter bewegen Drehbrücke per Muskelkraft
Endlich steuert der Kapitän auf den Höhepunkt unserer Bootstour zu: das hydraulische Doppel-Hebewerk Nummer vier. Nicht ganz ungefährlich ist das Hereinfahren in den Schleusentank. Wer an Deck steht, muss unbedingt den Kopf einziehen, denn das Schiff fährt unter zwei guillotinenähnlichen Toren durch. Passend dazu deutet die freundliche Belgierin mit der rechten Hand an, das ihr der Hals abgetrennt würde. Eine andere Frau warnt mich auch noch mal vor der Kopfverletzungsgefahr.
Trotz Gefahrenpotenzials macht den Kindern die Einfahrt in den Schiffsaufzug einen Riesenspaß, denn unter den hochgezogenen Schottentoren tropft es heftig herunter. Zentimeter für Zentimeter sinkt das Schiff in die Tiefe, hinab zum kleinen Jachthafen, während vis-á-vis der andere Tank in die Höhe steigt. So viel ist spätestens jetzt klar: Eine Schifffahrt auf dem historischen Canal du Centre ist entschleunigtes Reisen, das zugleich Entdeckerfreuden bereithält.