Zauneidechse, Knoblauchkröte oder der Große Abendsegler – die Biologin Susanne Bengsch weiß Bescheid, was in Berlin so kreucht und fleucht. Den kompletten Durchblick über die Tier- und Pflanzenwelt hat aber auch sie nicht – den hat bislang niemand. Doch das soll sich ändern.
Die gute Nachricht vorweg: Trotz Klimawandel und Artensterben, „ist es für die Flora und Fauna in Berlin und Brandenburg noch nicht zu spät". Da ist sich die Biologin Susanne Bengsch sicher. Als Projektleiterin der Koordinierungsstelle Fauna bei der Stiftung Naturschutz Berlin hat sie einen gewissen Überblick. In der öffentlich-rechtlichen Stiftung beschäftigen sich zusammen mit der Koordinierungsstelle Florenschutz inzwischen 16 Mitarbeiter mit der biologischen Artenvielfalt der deutschen Hauptstadt. Bengsch: „Unsere Arbeit steht unter dem Motto: Erkennen, erfassen, erhalten."
Vor allem das Erkennen und Erfassen der Tierarten in Berlin sei wichtig. „Bis zu unserer Gründung 2015 gab es kein zentrales Register oder eine digitale Datenbank, die alle Tierarten in der Stadt erfasst hat", erzählt die 37-Jährige. „Wir werden wahrscheinlich auch noch weitere zehn Jahre brauchen, um einen kompletten Überblick über die Fauna Berlins zu haben." Einer der Gründe: Die Vielfalt der Tiere sei einfach zu groß. Ein anderer: Das, was bis 2015 durch Umweltverbände oder Bezirke gezählt wurde, wurde in unzähligen Ordnern oder Excel-Tabellen abgelegt. „Zusammengeführt wurden die erhobenen Daten nicht", sagt Bengsch. In der Zentrale der Stiftung für Naturschutz türmen sich deshalb Dutzende Kartons mit Ordnern. Alles werde nun mühevoll von Studierenden und Kollegen Stück für Stück erfasst und digitalisiert.
Zehn Jahre bis zum kompletten Überblick der Berliner Fauna
Seit 2015 sind Bengsch und ihr Team auch selbst in der Stadt unterwegs, um die wahrscheinlich über 20.000 Tier- und Pflanzenarten zu erfassen. „Was wir schon jetzt sagen können: Der Klimawandel macht auch in Berlin vielen Arten erheblich zu schaffen." Besonders betroffen seien Amphibien. Sie sind so etwas wie die Sorgenkinder der Stiftung Naturschutz. Bengsch: „Den Amphibien setzen die steigenden Temperaturen zu. In Berlin vertrocknen immer mehr kleinere Gewässer oder das Wasser zieht sich erheblich zurück. In den flachen Tümpeln, die zurückbleiben, werden Frösche und Kröten schnell zum Opfer von Räubern." Ein weiteres Problem seien die sogenannten invasiven Tierarten wie der Waschbär. Dabei handelt es sich um Arten, die nicht von Natur aus in Berlin oder ganz Deutschland vorkommen, sondern durch menschliche Mithilfe eingeschleppt wurden. „Diese Tiere machen der einheimischen Flora und Fauna zu schaffen, da sie meist keine natürlichen Feinde haben." Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum Amphibien leiden: „Wir verzeichnen seit Jahren ein erhebliches Insektensterben. Insekten aber sind die Nahrungsgrundlage von Kröten, Fröschen und Co."
Während auf der einen Seite Tiere verschwinden, werden auch überall in der Stadt bislang noch nicht in Berlin registrierte Arten gefunden. „Ein gutes Beispiel ist der ehemaliger Güterbahnhof in Pankow", sagt Bengsch. Eigentlich wollte ein Investor hier Wohnungen und Geschäftsräume bauen. Das Projekt trägt den Namen „Pankower Tor". Doch Bauarbeiten wird es hier erst einmal nicht geben. Auf dem Gelände wurde die unter europarechtlichem Schutz stehende Kreuzkröte gefunden. Bengsch: „Bei diesen Tieren sind die Weibchen etwas größer als die Männchen. Die Hautoberfläche ist warzig und trocken. Wir haben den Kröten nun erst einmal Sender verpasst." Mit diesen soll erkundet werden, wie diese seltene Krötenart überhaupt lebt und welche Ansprüche sie an ihren Lebensraum hat. „Bis es eine Lösung gibt für diese und weitere streng geschützte Tierarten, die auf der Fläche leben, können die Investoren erst einmal nicht bauen."
Wichtigster Arbeitsgrundsatz der Stiftung für Naturschutz sei die Sensibilisierung der Berliner für die Flora und Fauna der Hauptstadt. „Da ist gerade in den letzten Jahren natürlich einiges passiert. Man kann mittlerweile sagen: Die Berliner sind erstaunlich aufgeschlossen", meint die Biologin Bengsch. „Aber es muss noch eine Menge passieren. Uns geht es dabei vor allem darum, dass immer weniger Menschen die Arten kennen, die es so gibt." Um das zu ändern, setzt Bengsch auch auf Kinder und Jugendliche. „Wir machen unter anderem mit Schulklassen Weiterbildungsprogramme und Exkursionen. Viele der Kleinen kommen ja kaum mehr raus und beschäftigen sich mehr mit Handys als mit der Natur, die sie umgibt." Eine dieser Veranstaltungen ist die Amphibienexkursion. Dafür fahre man zu einem Teich oder Tümpel, in dem Molche, Kröten und Frösche leben. „Viele ekeln sich erst einmal vor den Amphibien, vor allem wenn sie sie zum ersten Mal in die Hand nehmen." Der Ekel schlage aber schnell in Begeisterung um. Mit einem erstaunlichen Effekt: „Oft erkundigen sich die Kinder noch nach Monaten, wie es den Tieren denn so gehe."
Der Klimawandel macht den Amphibien zu schaffen
Auch Erwachsene sollen für das Thema begeistert werden. Hierzu gibt es gleich mehrere Projekte. Das wichtigste sei der sogenannte „Artenfinder". Auf einer Karte einer digitalen Plattform gibt es ortsgenaue Meldungen von Tieren und Pflanzen. Mitmachen können alle, die sich für Natur interessieren und sich entsprechend auskennen. So kamen allein im ersten Jahr über 30.000 Fundmeldungen zusammen. Gemeldet werden sie von Interessierten und ehrenamtlichen Experten, die man heute als Citizen Scientists bezeichnet. Sie stellen ihre Beobachtungen dem hauptamtlichen Naturschutz zur Verfügung und belegen die Beobachtungen durch Bild- oder Tondateien. Alle Meldungen werden überprüft, bestätigt und veröffentlicht. Bengsch: „Diese Daten sind häufig Ausgangspunkt für die Untersuchung und das Monitoring wichtiger Gebiete. Wir ermitteln so Bestandtrends und können daraus Artenschutzkonzepte entwickeln." Für dieses Projekt stellt die Stiftung Naturschutz unter anderem rund 100 sogenannte Wildtierkameras zur Verfügung. Sie funktionieren auch bei Nacht und mit Selbstauslöser. „Die Berliner können sich diese Kamera einfach ausleihen, um sie zum Beispiel im Vorgarten oder auf einem Schulhof zu positionieren", erklärt sie. „Mit den Schulen entwickeln wir dabei spezielle Projekte. Es ist für die Schüler unglaublich interessant, welche Tiere sich am Abend und in der Nacht auf dem Schulhof bewegen."
Damit die Kameras nicht Tonnen an überflüssigem Datenmüll liefern, sind sie mit einem Bewegungsmelder ausgestattet. Bengsch: „Dabei werden auch häufig Arten entdeckt, die wir bislang in Berlin noch nicht gesehen haben." So hat die Stiftung zusammen mit den Berliner Biber-Experten im Stadtgebiet rund 40 Reviere ausgemacht. „Die Biber breiten sich in der Stadt sehr schnell aus." Im Schlosspark Charlottenburg lebt sogar bereits eine ganze Familie der Nager. „Die Kameras haben auch einen verirrten Biber in Neukölln ausfindig gemacht. Er lebte in einem Gartenteich eines Privathauses. Das ging natürlich nicht." Das Tier wurde in der Zwischenzeit umgesiedelt.
Wildtierkameras für den Vorgarten
Konkrete Naturschutzprojekte werden von der Stiftung Naturschutz übrigens selbst nicht umgesetzt. Bengsch: „Unsere Arbeit beginnt immer mit dem Grundlagenerfassung und dem Monitoring wichtiger Gebiete. Anschließend ermitteln wir kurzfristig und langfristig die Bestände." In der Folge entwickle man nachhaltige Artenschutzkonzepte. „In erster Linie beobachten wir aber erst einmal." Dabei fallen den Naturschützern immer wieder die invasiven Tierarten ins Auge, die oft unabsichtlich in die heimische Natur eingebracht wurden und nun das Ökosystem beeinträchtigen. Beispiele seien etwa der Rote Amerikanische Sumpfkrebs, der in der jüngsten Vergangenheit immer wieder für Schlagzeilen sorgte. Die Tiere hatten sich invasionsartig im Berliner Tiergarten vermehrt und liefen auf der Nahrungssuche unter anderem über die Straße des 17. Juni und den Großen Stern. „Dieses Problem scheint das Land Berlin vorerst im Griff zu haben", sagt Bengsch. „Es wurden zahlreiche Krebse abgefischt. Die Zahl im Tiergarten und im Britzer Garten ist rückläufig." Zusätzlich habe man in Gewässern bestimmte Jungaale ausgesetzt, die vor allem kleine Sumpfkrebse fressen. Unsicher ist jedoch, in welche Gewässer es der Krebs darüber hinaus bereits geschafft hat.
Ein wesentlich größeres Problem sei nach wie vor der Waschbär. Auch er wurde nach Deutschland eingeschleppt. „Waschbären sind sehr anpassungsfähig." Susanne Bengsch hat bei einer ihrer Exkursionen einen Tümpel gesehen, dessen Wasser sich zurückgezogen hat. „Da hatten die Waschbären leichtes Spiel und haben Hunderte Amphibien in nur wenigen Nächten erbeutet. Wie im Rausch schien die Jagd im Vordergrund zu stehen, gefressen haben sie nur wenig."
Weitere Informationen über das Projekt: