Der Australier Liam Valentine Faggotter ist neuer Küchenchef im „Cell". Die komplexen Aromen auf dem Teller sind geblieben, die Gerichte wurden aber deutlich französischer und zugänglicher.
Es ist französischer, flexibler auf der Karte und, ja, in seiner Küche zugänglicher geworden, das überarbeitete „Cell". Liam Valentine Faggotter, vormaliger Souschef, übernahm im Sommer die Oberhoheit in der Küche. Er löste Evgenij Vikentev als Chef ab, mit dem das Charlottenburger Restaurant vor einem Jahr überaus ambitioniert gestartet war. Die interne Lösung, die sich das neunköpfige Team nach dem Weggang von Vikentev gewünscht hatte, gewährleistet Kontinuität und das hohe Niveau. Seit September wird nun unterm neuen Küchenchef nach der neuen Karte gekocht.
Mehr Zugänglichkeit bedeutet im „Cell" jetzt allerdings keineswegs gefällige Banalität auf dem Teller. Eine sinnvolle Vereinfachung hat es allerdings beim Bestellen gegeben. Aus dem Drei-mal-drei von Vorspeisen, Hauptgerichten und Desserts kann nun auch à la carte geordert werden. Die zeitintensive Neun-Gang-Pflicht entfällt. Ein „Carte Blanche"-Überraschungsmenü ermöglicht das ganz große Dinner-Kino, lässt aber auch in Zweierschritten fünf bis neun Gänge zu. Die Gäste, vor allem die, die öfter kommen, freut’s: Ein, zwei Teller und ein Glas Wein sind unter der Woche häufig die praktikablere Wahl.
Fagotter kocht, so sagt er, im „mixed London-French-Style". Mit internationalen Produkten, wie er sie in der britischen Hauptstadt fand, als er im „Hibiscus" kochte. Mit französischer Kochtechnik, wie er sie im heimatlichen Australien, im „Aria" in Brisbane, kennen- und erlernte. „In Australien gibt es einen starken europäischen Einfluss. Wir haben viele französisch geprägte Restaurants."
Aber auch Stationen in anderen europäischen Spitzen- und Sternerestaurants wie dem „&moshik" in Amsterdam oder dem „Relæ" in Kopenhagen haben ihre kulinarischen Spuren bei dem 32-Jährigen hinterlassen. Unorthodoxe Berliner Spitzenkochkunst erlebte er wiederum im „Tulus Lotrek". Berlin war bereits öfter, allerdings zuvor für kürzere Etappen, sein Lebens- und Arbeitsort. Inzwischen ist er drei Jahre am Stück vor Ort: „Aber es ist offenbar immer noch zu kurz für mich, um endlich Deutsch zu lernen", sagt Fagotter im Gespräch auf Englisch.
Überraschungsmenü ist großes Dinner-Kino
„More understandable", verständlicher als zuvor, sollten seine Gerichte sein. Heißt: ein Hauptdarsteller auf dem Teller, um den sich drei weitere Produkte scharen. Das Essen ist deutlich erkennbar, mit weniger spätmolekularen Anrichteschnörkeln als zuvor. Die Foie-gras-Scheibe bei unserem ersten Vorspeisen-Kandidaten hat’s in dieser Hinsicht leicht. Vielleicht sogar schon ein wenig zu sehr: Sie versteckt sich unter einem hauchdünnen, perforierten Brotchip mit Schnittlauchpulver und erzeugt so über Bande einen feinen optischen Drama-Effekt. Scheibe und Chip sind eine geschmacklich komplexe Angelegenheit.
Die Allianz von Foie gras und Aprikose, in einer Reduktion von Marsala mit Aprikosenessig dargeboten, ist eine sichere Bank. Ein Kern von schwarzen Walnüssen in der Mitte bietet sich für den sanften Kontrast-Knack an. Hallo „Frenchness"!
Dazu trägt der Rivesaltes Ambré 1998 von Parcé Frères aus dem Roussillon seinen Teil bei. Auf der Bauchbinde trägt er stolz eine große „17": „Er wurde so lange im Holzfass gelagert und dann erst abgefüllt", erklärt Sommelier Pascal Kunert. Holz, Süße und Vollmundigkeit, das passt, besonders zu den schwarzen Nüssen, an denen sich Kunert bei der Wahl des roséfarbenen Süßweins orientierte.
Ein Balken Schweinebauch glänzt nebenan unterm Lack von Umeboshi-Pflaume und Kalbsfond nicht weniger verführerisch unseren Mündern entgegen. Der Babyfenchel obenauf wurde mit „preserved Lemon", mit in Salz-Zucker-Lösung eingelegten Zitronen, angereichert. „100 Kilogramm davon, die wir voriges Jahr angesetzt haben, lagern noch unten im Keller", verrät Fagotter. Eine mit Sternanis und Soja abgeschmeckte Schweinebouillon sorgt für den asiatischen Twist. Ein „Helles" von Brło ist die leichte, bierige Begleitung im Weinglas. Sie wahrt den herzhaften Touch mit Stil.
Vegetarischer Dritter im Vorspeisen-Bunde ist ein in Olivenöl und mit Thymian und Knoblauch marinierter „bullhorn pepper". So klingt Spitzpaprika doch gleich viel dramatischer! Auf dem Teller gebärdet sich der rote Paprika auf seiner Unterlage von Paprika, gepickelten Zwiebeln mit Sumach, Kürbiskernen und deren Öl, Tomatenherzen, schwarzer Walnuss und Bronzefenchel vorrangig mediterran bis fruchtig. Ein 2017er Sauvignon Blanc vom Württemberger Winzer Jochen Beurer dockt von sich aus an der Paprika an. Für Pascal Kunert „der beste Sauvignon Blanc."
Auf Kunerts Getränkebegleitung ist von Anfang an im „Cell" Verlass. Der Sommelier mit Vorliebe für große europäische Gewächse und biologische Weine baute die Weinkarte mit 400 Positionen auf. Zur Taube, in einem knusprigen Filet, einem mit Kräutern und Knoblauchöl confierten Beinchen und dem zarten Pfaffenschnittchen gibt’s den Schwenk ins Rote. Ein kräftiger 2015er Spätburgunder Löwenherz vom Heilbronner Tobias Heinrich „aus einer klassischen Lage" fließt ins Glas. Was den Kleinvogel so taubig, zart und mürbe macht, ist auf dem Weg zu den Toiletten zu besichtigen: ein Kühlschrank, in dem die Vögel ihrer Zubereitung entgegenreifen. Die mit Innereien abgehangenen Tauben wurden ausgenommen und mit Heu gefüllt. Danach durften sie ein zweiwöchiges Heubad im Reifeschrank absolvieren, bevor sie sous vide gegart, gebraten oder confiert wurden. Eine weitere Schale ist mit „Rebhuhn" beschriftet. Das nächste herbstliche Fleischgericht liegt schon in der Reifeschleife. Monatlich wechseln drei Gerichte, erzählt Liam Valentine Faggotter. Das freut die Stammgäste und entspricht dem saisonalen Ansatz im „Cell".
Köstliches ohne Anrichteschnörkel
Hat die Taube ihre Reise durch Kälte und Hitze hinter sich, kommt sie mit pochiertem und karamellisiertem Chicorée und einem intensiven Jus auf den Teller. Saucen kann die Küche! Interessant: die Nocke aus den Außenblättern vom Chicorée und Kirschragout, die mit Kaffee und Vanille abgeschmeckt wurde. Auch der Steinbuttschaum zum selbigen Filet lässt uns aufmerken. Die Espuma wurde mit einer indischen Vadouvan-Gewürzmischung akzentuiert und wird von Hummeröl flankiert. Gut, dass ein Löffel in Griffweite ist, davon sollte nichts auf dem Teller zurückbleiben. Jonathan Staneker vom Service kennt das Phänomen: „Wenn davon etwas übrig bleibt, löffeln wir das auch gern aus." Der Steinbutt überzeugt auch mit seinem Fleisch. Er unterzog sich überraschenderweise ebenfalls einer Trockenreifung und durfte im Schrank seine Konsistenz verdichten. Eine Nocke aus gegrillter japanischer Baby-Avocado mit Labné verbreitet Rauch; gepuffter Quinoa, roter Oxalisklee, Dill, Bronzefenchel und Koriander begleiten den Fischgang.
Die englischsprachigen Gäste vom Nebentisch kommen nach einem Gespräch mit Faggotter zu uns: „This is outstanding, you have to write this!" Aber gerne doch! Sie sind aus Australien und auf Empfehlung ihres Hotels im „Cell" gelandet. Faggotter hat in seinem Heimatland nun zwei enthusiastische Fans mehr. Würde das Paar nicht am folgenden Tag wieder abreisen, wären die beiden wohl bald Stammgäste. So wie jener Mann, der den Sellerie-Hauptgang gleich zweimal nachbestellte. „I think this can be called a signature dish", meint Faggotter. Das dunkle Lasagne-Lookalike aus teils pochierten, teils gepickelten Selleriescheiben, einer Pilz-Duxelles mit schwarzen Trüffeln, Haselnüssen, Zitronenzesten und einer à part gereichten Sellerie-Béchamelcreme erfreut insbesondere die gemüseliebende Begleiterin.
Ich bin bekanntermaßen Team Dessert und könnte glatt zweimal von der Mille-feuille auf Whiskey-Vanillespiegel mit Blaubeersahne nehmen. Das lasse ich aber bleiben, denn wir knuspern mit dem Feinschmeckerfotografen zu dritt noch ein Törtchen mit eingelegtem Rhabarber und weißer Schokoladen-Kardamom-Creme, Sauerklee und Mirabellen weg. Auch das Lorbeer-Parfait auf Mandelbiskuit und mit Pfirsichtatar und Zwetschgen möchte noch angemessen vernascht werden. Ein sicheres Lockmittel für Süßschnäbel hat Faggotter parat: „Eine hausgemachte Mille-feuille und ein Parfait stehen immer auf der Karte."