Arten lassen sich auf Dauer nur erhalten, wenn der Lebensraum für sie bewahrt wird, sagt Magnus Wessel, Leiter des Bereichs Naturschutzpolitik des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND).
Herr Wessel, früher hieß es: Tauben füttern verboten! In der Stadt gibt es ja oft einfach zu viele Tauben. Nun wird die Turteltaube „Vogel des Jahres". Warum soll ich mich jetzt um dieses Tier sorgen?
Das ist eine Frage, die man sich im Artenschutz immer stellt. Die erste Antwort ist: Weil sie ein Lebewesen ist wie Sie und ich und daher einfach Schutz verdient. Und: Es stimmt, Tauben nerven manchmal. So ist das eben, wenn es Interessensgegensätze gibt, muss man damit umgehen. Die Turteltaube ist zudem kein Allerweltsvogel, also nicht die, die in der Stadt herumfliegt. Es ist wichtig, dass man sich rechtzeitig um Tierarten kümmert und ihnen Lebensmöglichkeiten gibt. Und nicht erst, wenn sie kurz vor dem Aussterben stehen.
Stehen sie denn vor dem Aussterben? Oder werden sie nicht einfach weniger?
Da gibt es zwei Perspektiven: Die eine ist die Zahl der Arten. Die Roten Listen, die regelmäßig auf die Entwicklung der Arten eingehen, zeigen es: Ein Großteil der Arten, vor allem die, die in der Agrarlandschaft leben, ist gefährdet. Hier gibt es einen klaren Negativtrend. Es gibt natürlich auch Gewinner! Artenschutz funktioniert eben auch: beim Fischotter, Seeadler, Wanderfalken oder dem Kranich etwa. Da sieht man: gezielter Schutz, der Verzicht auf Jagd, der Erhalt von Lebensräumen – das hilft. Das ist eine wichtige Botschaft. Wir haben kein rechtliches Problem, sondern ein praktisches Problem. Das hat viel mit Ressourcen von Behörden, ausreichenden Finanzen und mit Bewusstsein zu tun. Beim Thema Vogelschlag am Glas etwa ist bei Hausbesitzern und Architekten noch viel Informationsarbeit nötig. Erst jüngst gab es den Fall des neuen Bauhaus-Museums in Dessau, wo die Architekten das Thema Vogelschlag völlig ignoriert haben. Immerhin haben sie dann nach Intervention des BUND nachgerüstet.
Wenn es nur um die Arten geht, würde es ja eigentlich ausreichen, sie in Genbanken aufzuheben.
Das in Deutschland größere Thema beim Artensterben ist: Rückgang der Menge der Individuen der Arten. Das Problem löst keine Rettung jenseits der Landschaft, in der sie leben. Beide Aspekte des Artenschutzes sind wichtig. Die Krefelder Studie hat zum Beispiel gezeigt, dass selbst in den Schutzgebieten die Biomasse an Insekten massiv zurückgegangen ist. Klar ist damit: Schutzgebiete reichen nicht, wir brauchen Naturschutz auf 100 Prozent der Fläche in unterschiedlicher Intensität. Klimawandel wirkt auch, aber insbesondere die Intensivierung der Landwirtschaft. Wo vielfältige Landschaft mit Hecken, breiten Randstreifen, extensiv bewirtschafteten Flächen und Rückzugsräume sind, da geht es den Insekten auch gut.
Wie können wir den Artenschwund aufhalten?
Das Problem sind die ausgeräumten Landschaften. Sie bieten geringere Rückzugsräume und damit auch geringere Durchlässigkeit der Landschaft. Die Arten brauchen gut funktionierende Schutzgebiete und Korridore zwischen den Vorkommen, damit sie sich genetisch austauschen können. Bei Schmetterlingen sind es oft die Futterpflanzen, die fehlen. Deswegen ist der Biotopverbund wichtig. Das ist eine der großen Aufgaben für den Artenschutz. Ein gutes Beispiel ist der Schreiadler: Er braucht extensiv genutzte Wiesen und Weiden, Feuchtgebiete und Wälder mit alten Bäumen. Wir haben noch etwa 150 Brutpaare in Deutschland. Damit die Population wirklich stabil bleibt, brauchen wir mindestens 500 Paare.
Gegen den Schreiadler kann doch vermutlich niemand etwas haben. Da haben Sie doch leichtes Spiel.
Artenschutz ist aber nur erfolgreich, wenn er als Lebensraum- und Biotopschutz verstanden wird. Darum beschäftigen wir uns beim BUND vor allem mit den Treibern des Artenverlustes: der Politik, die kaum andere Wege ermöglicht als industrielle Landwirtschaft. Unser Anspruch muss sein: Naturschutz auf 100 Prozent der Fläche. Arten müssen von alleine zurechtkommen können, ohne tagtäglich gehätschelt zu werden, auch in einer durchorganisierten Kulturlandschaft, wie wir sie haben. Es gibt ja in Deutschland nur Kulturlandschaft, keine reine Naturlandschaft im Sinne von Wildnis. Diese soll jetzt laut Bundesregierung auf zwei Prozent der Landfläche entstehen. Langfristig sind fünf Prozent eher ein sinnvolles Ziel.
Wo geht es den Arten besser: in der Stadt oder auf dem Land?
In der Stadt gibt es in der Tat eine hohe Artenvielfalt. Das sind nicht nur die Neubürger aus anderen Teilen der Welt. Städte bieten grundsätzlich eine große Fülle an Lebensräumen. Tauben, Wanderfalken und viele andere finden an Gebäuden, in Parks und auf Friedhöfen Ersatzlebensräume.
Aber wir dürfen da nicht an der Oberfläche bleiben. Wenn wir die Bodenlebewesen anschauen, dann ist es anders. Dann ist die Stadt ein lebensfeindlicher Ort, in dem viele Arten keine Chance haben.
Aber auf dem Land sieht es oft nicht besser aus: Die Intensivierung der Landwirtschaft der letzten Jahrzehnte hat für die meisten Lebewesen lebensfeindliche Regionen entstehen lassen, von den Maisäckern ganz zu schweigen. Aber das betrifft mittlerweile selbst die normale Wiese. Die Artenzahl geht dann massiv zurück. Wenn eine Wiese zum falschen Zeitpunkt und zu oft gemäht wird, dann bleiben vielleicht noch drei, vier Grasarten und der Löwenzahn, das war‘s dann.
Dafür ist Deutschland sogar kürzlich von der EU-Kommission verklagt worden. Da helfen nur Naturschutzprogramme, wo es Geld für extensive Nutzung gibt. Angesichts des Preisdrucks haben die Landwirte gar keine andere Chance.
Ist der Landwirt dabei Ihr Gegner oder Ihr Verbündeter?
Landwirtschaft bedeutet seit Erfindung des Ackerbaus natürlich, einige Arten anderen gegenüber zu bevorzugen. Aber Biolandbau beweist ja, dass man durchaus Artenvielfalt und Produktivität zusammen haben kann. Das Problem in Deutschland ist, dass die Menschen in der Hauptsache billig, billig, billig einkaufen wollen. Das zwingt dazu, billig zu produzieren. Hinzu kommt eine fehlgeleite Förderstruktur. Selbst Landwirte, die das Problem erkannt haben, stehen da oft vor kaum lösbaren Herausforderungen. Hier muss die Politik helfen!
Bio-Brot zu kaufen, ist also ein Beitrag zum Artenschutz?
Ja, auf jeden Fall. Der erste Schritt, den der Verbraucher tun kann, ist ein Bio-Lebensmittel zu kaufen. Aber es gibt auch konventionelle Landwirte, die naturnah arbeiten und sich intensiv bemühen, Naturschutz und Landwirtschaft zu vereinen.
Tun sie das nur, wenn sie Geld vom Staat bekommen?
Nein, es gibt eine Menge Landwirte, die sich aus eigenem Verantwortungsgefühl darum kümmern. Wir haben viele Projekte in intensiven Landwirtschaftsregionen mit direkter Beratung der Landwirte, zum Beispiel um Wildbienen und Insekten zu schützen. Da gibt es ein großes Interesse. Die Zuspitzung gegen die ‚bösen Bauern‘, das ist Unsinn. Die klassische Ausbildung der Landwirte vernachlässigt den Naturschutz und die biologische Vielfalt ja vollkommen. Und sie folgen ja auch dem Preisdruck. Wenn Mais profitabel ist, bauen sie Mais an. Aber es gibt natürlich immer Flecken und Ecken, wo man trotzdem was tun kann. Entlang jedes öffentlichen Weges gibt es Randstreifen. Die werden oft weggedüngt und weggepflügt. Die kann man aber zu einem Netzwerk entwickeln. Hier kann jeder aktiv werden.
Oft können die Landwirte nicht anders: der Druck des Marktes.
Das ist so, hier muss die Politik in Brüssel und Berlin umsteuern. Aber man muss auch sagen: Keine Agrarpolitik der Welt zwingt einen Landwirt, die letzten öffentlichen Randstreifen am Feldweg mit wegzupflügen und zu nutzen. Auch eine Hecke macht keinen Betrieb unprofitabel. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums gilt nun mal für jeden.
Was ist mit dem Wald? Auch der Wald stirbt – ein Thema für den Artenschutz? Hätte man mit mehr Artenschutz die aktuelle Misere vermeiden können?
Wir haben ein Problem der Forstwirtschaft. Jetzt entstehen große Löcher in den Forsten. Der klassische Nadelholzanbau kann unter heutigen Bedingungen nicht mehr funktionieren. Wir hatten jetzt drei trockene Jahre. Wenn man früher auf Naturschützer gehört hätte, wäre vielleicht einiges nicht so gravierend gekommen. Es ist ganz klar: Die Wälder, in denen mehr Totholz liegt, halten mehr Feuchtigkeit, das gibt ein ganz anderes Mikroklima. Dann haben junge Bäume auch unter den Bedingungen großer Trockenheit bessere Chancen. Mit dem Waldumbau hätte man viel früher beginnen können. Der Artenschutz hat immer gesagt: Wir brauchen mehr Biotopschutz. Wald muss vielfältiger werden, was die Baumarten angeht, die Waldränder, die Mischung aus jungen und alten Bäumen. Geschwächte Bäume sind ein Eldorado für Schädlinge. Artenschutz hätte da einiges verhindern können. Und das geht auch wirtschaftlich.
Ein natürlicher Mischwald hat es schwer, weil junge Laubbäume gern vom Wild gefressen werden. Muss man die eine Art vor der anderen schützen?
Zuviel Wild ist für den Waldumbau mit Laubbäumen eine Gefahr. Wir müssen mehr jagen.
Sind Sie da ganz bei den Jägern?
Uns geht es um Wildtiermanagement für einen artenreichen Wald. Wir wollen die Buche in Einklang mit dem Rothirsch bringen. Das sollte dann mit wissenschaftlicher Begleitung erfolgen. Das passiert noch zu wenig in Deutschland. Wobei Wild ja im Übrigen auch die nachhaltigste Fleischerzeugung ist.
Also als Artenschutz Wildfleisch auf den Teller statt Schweineschnitzel?
Ja, sofern bleifrei geschossen, absolut.
Bedeutet Artenschutz eigentlich immer, die Natur nur sich selbst zu überlassen?
Es gibt in Deutschland ja keine komplett naturbelassenen Flächen mehr. Bei uns ist Natur ja praktisch immer Kulturlandschaft. Die Wiese muss gemäht werden, sonst wird sie in ein paar Jahrzehnten Wald. Da geht es um kluges Steuern.
Artenschutz gerät manchmal in Konflikt mit Umwelt- oder Klimaschutz: Der Umstieg auf erneuerbare Energien schafft Maisäcker für Biogas. Windräder töten Greifvögel und Fledermäuse.
Ja, wobei: Der Mais in Deutschland geht zu 60 Prozent in die Fleischproduktion. Aber das stimmt natürlich: Da gibt es Konflikte. Darum sagen wir: An erster Stelle muss die Energieeinsparung, die Suffizienz, stehen. Dann lässt sich erneuerbare Stromproduktion auf ein bis drei Prozent der Landesfläche machen. Gute Planung kann die Konflikte entschärfen. Natürlich: Jeder Bau ist ein Eingriff in die Landschaft. Windkraft ist neben Photovoltaik die beste Technik, und wir brauchen einen weiteren Ausbau. Über die genaue Zahl kann man diskutieren, aber wir brauchen mehr. Wir haben da in Deutschland mit der Eingriffsregelung ein grandioses Instrument: Was du kaputt machst, musst du reparieren. Da geht es um kluge Planung: Bau nicht in die Dichtezentren von Rotmilanen, dann gibt es die Abstandkriterien. Bei Fledermäusen ist es komplexer. Das ist schwerer abzuschätzen. Windräder töten Fledermäuse nicht nur durch Schlag, sondern auch durch den Unterdruck, den die Blätter erzeugen. Das kann die Fledermäuse noch Hunderte Meter weit weg umbringen. Das ist ein schwierigeres Thema.
Es kann also kein Argument gegen Windräder sein?
Nein. Vor allem: Windkraft ist ja nur ein Tropfen in ein schon volles Fass an Belastungen für unsere Natur. Das ist gefüllt von Straßen, Siedlungen, industrialisierter Landwirtschaft. Alle Eingriffe sollten minimiert werden, da muss man schauen, welche die wichtigsten für die Gesellschaft sind. Natürlich gibt es da Interessenskonflikte. Die Schäden, die passieren, müssen kompensiert werden. Dabei ist es leider so, dass nur ein Drittel der Kompensationen überhaupt funktionieren. Das ist ein Desaster, ein echtes Behördenversagen. Auch ist das Monitoring nicht so, wie es sein müsste.
Monitoring ist ja eigentlich wissenschaftliche Naturbeobachtung. Dazu braucht man Menschen mit guter Artenkenntnis. Haben Sie noch genug Ehrenamtliche, die das machen und machen können?
Das Interesse ist hoch wie nie zuvor. Wir machen Artenschutz in unseren über 2.000 Ortsgruppen. Die Neugier ist ungebremst groß, das sehen wir bei unseren Angeboten. Exkursionen und Bildungsangebote werden sehr gut angenommen. Es gibt keine Krise des Engagements, aber es gibt gewisse Überalterung. Auch die Breitenbildung an den Schulen hat enorm gelitten. Die Artenspezialisten werden alt, da gibt es auch Ausbildungsdefizite an den Unis. Die klassische Artenkenntnis hat abgenommen.
Da haben wir das neue Projekt Spurensuche Gartenschläfer, ein echtes Citizen-Science-Projekt mit Ehrenamtlichen. Schon jetzt, kurz nach Start des Projekts, haben wir in wenigen Monaten die weltweit größte Datenbank an Nachweisen von Gartenschläfern aufgebaut. Das Beispiel zeigt: Das große Interesse der Menschen muss abgeholt und koordiniert werden. Das ist unsere Arbeit. Da sind die Verbände mit ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern wichtig, aber auch die Naturkundemuseen und Universitäten. So schaffen wir eine breite gesellschaftliche Wertschätzung.
Nun die unausweichliche Frage in diesem Zusammenhang: Wie halten Sie es mit dem Wolf?
Das Problem der Schäfer ist weniger der Wolf, als dass sie aus anderen Gründen arm sind. Der Wolf ist eine zusätzliche Herausforderung. Wir stilisieren hier manchmal regionale Probleme zu großen gesellschaftlichen Themen. Das ist etwas mittelalterliches Denken, so ein Kampf gegen die Natur. Aber was stimmt: Der Wolf ist für den Landwirt ein zusätzliches Problem, das er eigentlich nicht brauchen kann. Viehwirtschaft ohne Wolf ist sicher entspannter. Man muss dann keine speziellen Wolfszäune bauen, keine Herdenschutzhunde halten und man kann Tiere sogar alleine in den Wald lassen. Die Zeiten sind vorbei. Die Wölfe sind da und breiten sich aus. Als Menschen müssen wir uns entscheiden: Wo wollen wir sie haben und wo nicht?
Kein Abschuss?
Es gibt jetzt schon die Möglichkeit, Wölfe, die Probleme machen, als letzte Lösung abzuschießen. Die rechtlichen Instrumentarien sind da, um das zu lösen. Da gibt es auch keinen Widerspruch. Was natürlich nicht geht, ist: ein Riss, noch ein Riss, Abschuss. Aus der Schweiz wissen wir: Die Wölfe, die wirklich Probleme bereiten, sind Jungtiere. Tiere, die gelernt haben, Weidetiere zu reißen, und auch Tiere, die auf Wanderschaft sind. Wolfsterritorien sind meist relativ stabil. Innerhalb eines Territoriums breiten sich Wölfe nicht aus. Aus der Lausitz gibt es die Erfahrung, dass Wolf und Hirsch an einer Tränke zusammenkommen. Diese Interaktionen sind noch viel zu wenig bekannt.
Was kann man gegen aggressive Wölfe tun?
Vor allem muss man wissen: Der Wolf ist vorsichtig. Er kann sich nicht erlauben, verletzt zu werden. Und er lernt aus seinen Erfahrungen. Er lernt erst, dass er Schafe fangen kann und wie einfach das sein kann. Das dürfen sie eben erst gar nicht lernen. Wir haben ja in der Natur kein Nahrungsproblem. Es gibt genug Wildschweine und anderes Wild. Und wir müssen Herdenschutz betreiben, insbesondere bei Schafen und Ziegen. Der muss finanziell dauerhaft unterstützt werden.
Warum sollen wir denn den Wolf überhaupt schützen?
Weil er ein Lebewesen ist, und weil wir hier auch Vorbild sein können. Wir können Menschen in Afrika nicht sagen, sie sollen bitte das Nashorn und den Elefanten schützen, wenn wir unsere wilden Tierarten nicht schützen können. Das sollten wir da immer mit im Blick haben.